Der Verlust der Scham ist der Niedergang der Würde
Wann beginnt die Würde und wo hört sie auf? Oft hat das Gefühl für die Würde des Menschen auch mit dem Schamgefühl zu tun.
Unter Würde versteht man den Wert, den Rang, die Ehre, das Verdienst oder das Ansehen einer einzelnen Person. Sie bedeutet auch Selbstachtung, Erhabenheit oder Anstand. Friedrich Schiller sieht im freien Willen des Menschen den entscheidenden Unterschied zum Tier. Würde entstehe dann, wenn sich der Wille des Menschen über seinen Naturtrieb erhebe. Heute spricht man auch von der Würde des Tieres und gib ihm Rechte. Seit 2004 ist sogar die Würde von Pflanzen im Schweizer Gentechnikgesetz, Artikel 8, verankert.
Wie ist es bestellt mit der menschlichen Würde angesichts vieler unverschämter Hasskommentare im Deckmantel der Meinungsfreiheit und schamloser Darstellungen im Deckmantel der Kunst? Da werden nicht nur fremde Personen entwertet, sondern auch die Persönlichkeit der Urheber erleidet einen empfindlichen Verlust der Selbstachtung. So mancher dieser „originellen“ Typen hat sein Tun später zutiefst bedauert und sich abgrundtief geschämt für seine moralischen und sozialen Entgleisungen.
Die intakte Psyche achtet die Würde des Nächsten
Als in Stuttgart Justyna Koeke einen nackten Jesus in Halloween-Manier und Maria mit einem Riesenbusen aufstellte, die das Jesuskind an der Nabelschnur durch die Luft schleudert, war der Aufschrei vieler Menschen groß. Zu Recht. Koeke gab zu, dass sie die Religion verulkte. Dass sie dabei auch jeden Respekt vor religiösen Menschen (und vor Gott) vermissen ließ, schien ihr egal. Hauptsache: Kunst und Medienrummel. Und die Galerie Schacher hat wohl ebenfalls das Gefühl für Würde und Scham verloren. Was muss passiert sein, dass Menschen solche Dinge tun und Grenzüberschreitungen für legitime Kunst halten?
Und wieso wurde der Rapper Bushido mit dem Bambi für Integration ausgezeichnet, nachdem er einen Song in grottenschlechtem Versmaß absonderte, der Polizei, BKA , Claudia Roth und Wowereit auf üble Weise anpöbelte. Inzwischen wissen wir, wie kaputt seine Psyche ist und wie zerstört sein Frontallappen sein muss nach so vielen Drogen. Da hat ein abgelaufener Reifen mehr Profil….
Die Corona-Krise hat uns Defizite erkennen lassen
Wie schnell entstanden spontane Hilfsgruppen, wie unbürokratisch wurde den Menschen geholfen, und wie grenzenlos war auf einmal die Verbundenheit untereinander! Wir haben erkannt, dass uns Egoismus und Kapitalismus nie wirklich nutzten; die selbstverliebten Selfies und die Gier nach Konsum, nach mehr und höher und weiter und berühmter, führten zu Rücksichtslosigkeit und Respektverlust; einige wenige zeigten dieses Verhalten auch noch während der Krise. Aber insgesamt erlebten wir einen Aufbruch neuer Ideen und kreativer Zeitgestaltung. Diese Krise war eine Chance; da musste alles auf „Reset“ gesetzt werden, um den Virus der narzisstischen Aufblähung zu bekämpfen. Auf einmal hatten die Kranken, und Alten, die Schwachen und die Obdachlosen eine Würde; man besann sich ihrer und half. Auch die Ärzte und das Pflegepersonal wurden in ihrem Wert erkannt und anerkannt; es bleibt zu hoffen, dass dies sich auch auf dem Lohnzettel auswirken wird. Und wer hätte es gedacht, dass die Politiker so schnell und unkompliziert Entscheidungen treffen und umsetzen würden! Diese weltweite Katastrophe hat uns genötigt, die sozialen, empathischen Defizite zu überwinden und den Wert eines jeden Einzelnen neu zu entdecken.
Selbstachtung und Respekt vor anderen ist kompatibel
Da wir nach dem Ebenbild Gottes geschaffen sind, sollten wir eine gesunde Selbstachtung pflegen. Es gehört zum Charakter der Würde, dass wir niemanden in seinen Schwächen outen und ihn demaskieren; dass wir keine Witze machen auf Kosten anderer; dass wir uns selber nicht in die Niederungen moralischer Fragwürdigkeiten begeben, koste es, was es wolle. Nie sollten sich Ehepartner vor Gästen eine Schlammschlacht liefern; nie sollten Eltern ihre Kinder vor deren Freunden demütigen, und nie sollte sich jemand hergeben für obszöne Bilder, auch wenn er dabei viel Geld bekommt. Er verliert die Selbstachtung und kann kaum damit rechnen, von anderen geachtet zu werden. Im 14.Kapitel des Buches Jesus Sirach heißt es: „In aller Demut ehre auch dich selbst und gib dir das Recht, das dir zusteht.“
Foto: © pixarno adobe stock
Über den Autor/ die Autorin
Pater Dr. Jörg Müller SAC
Pater Dr. Jörg Müller SAC stammt von Bernkastel-Kues an der Mosel (geb 1943). Er durchlitt die Schulzeit, ist zweimal sitzengeblieben, und hat sich dann in den Studien der Theologie , Philosophie und Pädagogik (Trier, Innsbruck), Psychologie und Pathologie (Salzburg) davon erholt. Er war Lehrer an verschiedenen Schulen in Trier, Salzburg, Tamsweg und Saarburg, dann Psychotherapeut mit eigener Praxis, bis ihn der Frust packte und er in Tunesien eine T-Shirt-Fabrik baute. Vom Partner betrogen, kehrte er zurück nach Deutschland und trat in die Gemeinschaft der Pallottiner ein. Das war 1989 am Tag des Mauerfalls. Im Pallotti Haus Freising gründete er die Heilende Gemeinschaft, eine stationäre, therapeutische Einrichtung für Menschen in seelischer Not. Inzwischen hat er über 60 Bücher geschrieben und 4 Lied-Cassetten herausgebracht; er ist unter anderem auch als Kabarettist unterwegs.
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