Bibel ist erzählter Glaube
Manche Christen meinen ja, dass die Bibel wortwörtlich zu nehmen ist. Dabei besteht das Buch der Bücher vor allem aus Erzählungen und Geschichten, die interpretiert werden müssen. Der Vorteil von Geschichten ist aber: Sie prägen sich besser ein. Und Menschen lieben Geschichten.
Die meisten von uns werden sich erinnern, wie unersättlich Kinder nach Geschichten sind. Liest du mir noch eine Geschichte vor? Erzählst du mir noch eine Gute-Nacht-Geschichte? So klingt es noch von unseren Kindern und Enkelkindern in unseren Ohren nach. Egal ob in Afrika oder Australien, bei Dschungelstämmen oder in der modernen Großstadt, wir Menschen erzählen Geschichten. Wir können nicht anders. Durch das Geschichtenerzählen werden über Generationen und verschiedene Kulturen hinweg Informationen über die Vorfahren und soziale Bräuche weitergegeben, herausragende Leistungen gepriesen und abschreckende Beispiele in Erinnerung behalten.
Das Erzählen beginnt mit den Höhlenmalereien und den Hieroglyphen, geht über Prosa und Poesie, Gesang und Tanz bis hin zum Film und zu Computer gesteuerten und erzeugten Bildern. Geschichten werden so ziemlich überall erzählt. Werbung erzählt Geschichten. Wenn wir etwas erklären, erzählen wir oftmals Geschichten. Wenn Kinder zu spät zur Schule kommen, erzählen sie eine Geschichte. Diese Geschichten sind mehr oder weniger glaubhaft. Je besser ein Geschichtenerzähler ist, desto besser kann er mit Dingen durchkommen.
Geschichten stiften Sinn und Orientierung
Politiker müssen gute Geschichtenerzähler sein, wenn sie gewählt werden wollen. Geschichten stiften Sinn und Orientierung, Geschichten helfen, eine Identität auszubilden. Mit Hilfe von Geschichten kann ich Erlebtes strukturieren und einordnen und so damit umgehen. Politische Systeme, Gesellschaften und Kulturen leben aus Gründungsmythen und von Gründungsgeschichten.
Für die jüdisch-christliche Kultur ist die Befreiung des Gottesvolkes Israel aus der Knechtschaft Ägyptens eine solche Gründungserzählung. Im zweiten Buch der Bibel, im Buch Exodus, wird davon erzählt. Geschichtlicher Hintergrund ist die wechselnde Vormachtstellung von Assyrien, Ägypten und Babylonien im 7. Jahrhundert v. Chr. im Vorderen Orient. Eigentlich erzählt das Exodusbuch die Geschichte eines Herrschaftswechsels. Das Volk Israel verlässt die Herrschaft des Pharaos und kommt unter die Herrschaft Jahwes. Die doppelte Bedeutung des hebräischen Wortes ‘bd (dienen) lässt diese thematische Linie deutlich hervortreten. Zunächst sind die Israeliten ‘avidim (= Sklaven, Knechte) des Pharao, im zweiten Teil des Buches ‘avedu (dienen, kultisch verehren) sie ihren Gott Jahwe. Dieser Gott Jahwe erweist sich im Exodus als wirkmächtig.
Das Wunder vom Schilfmeer
In der Erzählung vom Durchzug durch das Rote Meer in Ex. 14, 21-31 greifen zwei Erzählstränge ineinander. Der eine ist mehr nüchtern und an dem orientiert, wie sich die Dinge wohl tatsächlich zugetragen haben mögen, der andere ist ganz und gar geprägt von dem unglaublichen Ereignis der als Wunder erfahrenen Errettung aus der Hand der Israel verfolgenden Streitmacht Ägyptens und von orientalischer Erzählweise.
In der einen Erzählung ist es so ähnlich wie bei Ebbe und Flut. Ein starker Ostwind treibt das Meer fort und lässt es austrocknen. Die Israeliten können trockenen Fußes durch das Meer ziehen, anschließend flutet das Wasser wieder zurück und begräbt die ägyptische Streitmacht unter sich, die nicht schnell genug vorankommt. Die andere Erzählung lässt Mose mit seinem Stab auf das Wasser schlagen, das Wasser spaltet sich und die Israeliten können durch das Meer ziehen, während rechts und links das Wasser hoch wie eine Mauer steht. Anschließend schlägt Mose wieder mit seinem Stab auf das Wasser und die nachrückenden Ägypter werden unter dem zurückflutenden Wasser begraben. Gegen alles Erwartbare entkam das Gottesvolk Israel den militärisch haushoch überlegenen Ägyptern. Geschichte wird erzählt und weitergegeben als vom Gottesglauben her erzählte und gedeutete Geschichte.
Geschichten von Gott und vom Reich Gottes
Wie kann man von Gott und vom Reich Gottes erzählen? Jesus benutzt Bilder aus der Lebenswelt seiner Zuhörer. Hauptsächlich hatten diese als Kleinbauern und Viehzüchter mit Ackerbau und Viehzucht zu tun. Für Menschen des 21. Jahrhunderts sind diese Bilder und Gleichnisse nicht mehr so unmittelbar, aber dennoch immer noch verständlich. Menschen des Informations- und Computerzeitalters haben den unmittelbaren Kontakt zur Natur, zum Wachsen und Reifen und zum Rhythmus des Lebens von Werden und Vergehen weitestgehend verloren. Sie müssen sich in die Bilder und Gleichnisse, die Jesus gebraucht hat, oft mühsamer hineinarbeiten und hineinfinden als frühere Generationen.
Von Gott und seiner Barmherzigkeit lässt Lukas Jesus im Kapitel 15 seines Evangeliums erzählen. Es sind die wunderbaren Gleichnisse vom verlorenen Schaf, von der verlorenen Drachme und vom verlorenen Sohn und barmherzigen Vater. Lukas, der Evangelist der Armen und Verlorenen spricht von der Freude darüber, wenn Verlorene wiedergefunden und von Gott wieder aufgenommen werden.
Die Gleichnisse im Kapitel 13 des Matthäusevangeliums sprechen von der Saat des Reiches Gottes. Ein Sämann ging hinaus, um zu säen. In oder auf welchen Boden fällt der Samen des Reiches Gottes? Sät die Kirche den guten Samen des Reiches Gottes auf Beton? Ein anderes Gleichnis erzählt wiederum von einem Sämann, der guten Samen aussät, aber feststellen muss, dass neben dem guten Samen auch Unkraut aufgeht. Alle Eiferer werden belehrt: Lasst beides wachsen bis zur Ernte, sonst wird mit dem Unkraut auch viel Gutes ausgerissen. Erst zum Schluss, erst am Ende ist die Zeit, Unkraut vom Weizen zu trennen. Ebenso ist das Himmelreich zu vergleichen mit einem kleinen Senfkorn, das zu einem großen Baum wird, und mit Sauerteig. Nur ein klein wenig davon genügt, um den ganzen Teig zu durchsäuern. Es kommt nicht auf die große Zahl von Christen in der Welt an, sondern auf die Glaubwürdigkeit und die Kraft senfkorngroßen Glaubens.
Bild: Davy Cheng Adobe Stock
Über den Autor/ die Autorin
Pater Heinz-Willi Rivert SAC
Geboren 1960 in Rheinbach bei Bonn. Katholischer Priester in der Gemeinschaft der Pallottiner, Diplom in Theologie und in Psychologie. Ehemals in der Jugend-, Pfarr-, Schul- und Hochschulseelsorge tätig, kurz nach der Wende von 1989 auch für drei Jahre im Bistum Erfurt. Seit 2020 lebt er im Missionshaus der Pallottiner in Limburg/Lahn. Er ist tätig in der Seelsorge, in religiöser Erwachsenenbildung und in der freien Mitarbeit bei verschiedenen Publikationen.
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