Gemeinsame Werte gemeinsam verteidigen
- Militärseelsorge und der Krieg in der Ukraine
Der Frieden ist in vielen Ländern der Erde brüchig. Es gibt Staaten, die führen bereits seit Jahrzehnten Krieg gegeneinander. Es ist mir unverständlich, warum zwei Kriegsparteien nicht in der Lage sind, sich an einen Tisch zu setzen und offen und ehrlich darüber zu diskutieren, wie der Krieg zwischen ihren beiden Ländern zu einem Ende kommen kann. Ein Waffenstillstand wäre der erste Schritt zum Frieden. Aber: Wenn Kriegsparteien die Waffen schweigen lassen, haben wir dann schon Frieden?
Der niederländische Philosoph Baruch de Spinoza sagte es im 17. Jahrhundert so: „Frieden ist nicht Abwesenheit vom Krieg; Friede ist eine Tugend, eine Geisteshaltung, eine Neigung zu Güte, Vertrauen, Gerechtigkeit.“
So einfach ist es also nicht mit dem Frieden, denn die Eigenschaften, die Baruch de Spinoza hier aufzählt, entstehen im Menschen nicht einfach über Nacht. Eine Geisteshaltung beschreibt die grundsätzliche Einstellung einer Person, die ihr Denken, Artikulieren, Verbalisieren und Handeln maßgeblich beeinflusst. Der Mensch lebt in der Regel unter anderen Menschen, von denen er auf die ein oder andere Weise beeinflusst wird. Begegnet er Menschen, denen Eigenschaften wie Vertrauen, Gerechtigkeit und Güte anheimgegeben sind, wird er davon beeinflusst. Dieses entgegengebrachte Vertrauen prägt ihn automatisch. Werden diese Einflüsse durch Bilder, Worte und Situationen in den Medien, in der Presse oder in Filmen noch unterstützt, bildet sich im Menschen mit der Zeit eine Meinung und Einstellung zu bestimmten Dingen heran.
Einfach gesagt: Je mehr Informationen ich zu einer bestimmten Sache erhalte, desto informierter fühle ich mich. Auf dieser Grundlage sind dann auch verlässliche und gerechte Entscheidungen möglich. Was aber „gerecht“ zu sein scheint, liegt hier im Focus des Protagonisten.
In der Zeit des Nationalsozialismus beispielsweise ist es dem Staat durch geschickte Manipulation und Falschinformationen gelungen, einem großen Teil der deutschen Bevölkerung zu suggerieren, dass die Ermordung der europäischen Juden, der Kampf gegen den Bolschewismus oder die Gewinnung von Lebensraum im Osten Europas dringend notwendige Maßnahmen wären. Dass dies jedoch in Wirklichkeit alles frei erfundene Strategien Hitlers und seiner Genossen waren, glaubte zum damaligen Zeitpunkt nur ein kleiner Teil der Bevölkerung.
Es hat also wesentlichen Einfluss auf unser Denken, Fühlen und Handeln, von welchen Meinungen wir uns im Leben beeinflussen lassen. In solchen Situationen ist es gut, sich an seinem inneren Glaubenskompass zu orientieren. Als Mitglied der Pallottinergemeinschaft habe ich und haben wir als Mitbrüder und Mitschwestern unseren Kompass. Bereits 1830 erkannte der Heilige Vinzenz Pallotti, dass in der Kirche neben den Priestern auch die Laien eine Verantwortung innehaben müssen. Ihm war die gleichwertige Zusammenarbeit aller am Aufbau des Reiches Gottes wichtig. „Jeder, sei er Priester oder Laie, kann das Verdienst des Apostolates erwerben.“ Diese Grundeinstellung Vinzenz Pallottis hat bis heute Auswirkungen auf mein Leben und Handeln. Das mögliche Scheitern des Synodalen Weges in Deutschland halte ich vor diesem Hintergrund für eine Katastrophe.
Die Beeinflussungen durch Falschinformationen haben in den letzten Jahrzehnten deutlich zugenommen. Dabei hat der Mensch doch die Möglichkeit, sich umfassend zu informieren, tut es aber oft nicht. Viel angenehmer ist es offensichtlich, in seinem Schneckenhaus zu bleiben und sich seine Sicht zu den Dingen zu bewahren.
Nur zivile Hilfe?
Als ich am 1. Februar 2022 meinen neuen Dienstposten im Katholischen Militärpfarramt Ahlen angetreten hatte, war es 77 Jahre her, dass in Europa Krieg war. Nur 23 Tage später wurde meine Weltsicht auf den Kopf gestellt: Krieg in Europa. Mit dem völkerrechtswidrigen Angriff Russlands auf die Ukraine änderte sich alles. Nur wenige Autostunden von Deutschland entfernt ist Krieg. Sofort kamen mir Bilder von getöteten Menschen in den Sinn, von Flucht und Vertreibung. Doch woher kenne ich den Krieg? Sicher nicht aus eigenem Erleben. Der Zweite Weltkrieg, an den sich die ältere Generation in Deutschland noch erinnert und den die jüngere Generation nur von Erzählungen und aus Foto- und Filmmaterial kennt, ist lange vergangen.
Es hat schon etwas Bizarres und Unwirkliches an sich. Wir werden jeden Tag über die Brutalität des Krieges in den Medien informiert, sehen getötete Zivilisten, zerstörte Städte und hilflos umherirrende Menschen und zappen mit der Fernbedienung zum nächsten Sender weiter. Auch ich ertappe mich manchmal dabei. Der Krieg in der Ukraine ist so nah und doch so fern. Bei genauerem Überlegen ist es bei mir eine Mischung aus Hilflosigkeit und dem Gefühl „ich kann ja doch nichts machen“. In diesen Situationen ist es gut, darum zu wissen, dass es Institutionen gibt, die sehr wohl etwas machen können und dies ja auch tun.
Ich denke hier an die vielen Hilfswerke und Privatinitiativen von Menschen, die Hilfsgüter und Spenden für die Ukraine organisieren. Viele Städte und Gemeinden knüpfen Partnerschaften mit ukrainischen Gemeinden, und in vielen Kirchen beten Menschen um Frieden. Sonderkollekten und die organisierte Flüchtlingshilfe in Deutschland und anderswo tragen mit dazu bei, das Leid der Menschen ein wenig zu lindern. Aber seien wir ehrlich: Den, der das Leid von Amtswegen verursacht hat, den Aggressor selbst, vermögen wir als einzelne und als zivile Gesellschaft nicht in die Schranken zu weisen. Hier braucht es andere „Player“.
Aus den Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges heraus, insbesondere auch der völkerrechtswidrigen Angriffe Nazideutschlands auf andere Staaten, hat sich im Jahr 1949 die Nato gegründet. Nato bedeutet „North Atlantic Treaty Organization“ (Nordatlantische Vertragsorganisation), das Bündnis verknüpft seit mehr als 70 Jahren Europas und Nordamerikas Sicherheit. Es steht für gemeinsame Sicherheit und Verteidigung, für gemeinsame Operationen und für die internationale Kooperation mit Partnern. Die Nato versteht sich auch als Wertegemeinschaft freier demokratischer Staaten. Im Nordatlantikvertrag bekennen sich die Mitglieder zu Frieden, Demokratie, Freiheit und der Herrschaft des Rechts.
Die Bundeswehr mit ihren Soldaten trägt als Mitglied der Nato elementar zur Sicherheit Deutschlands und ihrer Partner bei. Die Tatsache, dass auch die Ukraine inzwischen einen Aufnahmeantrag an die Nato gestellt hat, untermauert die Erfahrung, dass gemeinsame Werte und Überzeugungen auch gemeinsam verteidigt werden müssen.
Auch Staaten wie Finnland und Schweden prüfen derzeit eine Aufnahme in die Nato. Ihr bisher geltender Status der Neutralität scheint kein Garant mehr für eine friedliche Koexistenz zu sein in einer Welt, die zunehmend unberechenbarer wird.
Es ist daher richtig, die Ukraine in ihrem Bestreben nach Freiheit und Demokratie zu unterstützen.
Ein spezieller Dienst für Soldaten
Wenn in den kommenden Monaten Soldaten der Bundeswehr in Einsätze zur Sicherung der Nato-Ostflanke abkommandiert werden, so werden Militärseelsorgerinnen und -seelsorger sie ganz selbstverständlich begleiten. Jeder Einsatz, ganz gleich, wo er stattfindet, ist eine körperliche und seelische Belastung der Soldaten und ihrer Familien. Die Trennung von Familie und Freunden und die Herausforderungen im Einsatzland sind nicht zu unterschätzen. Als Militärpfarrer stehe ich außerhalb der militärischen Hierarchie und bin somit für den Soldaten ein vertraulicher Ansprechpartner, wenn dieser das Gespräch mit mir sucht.
Bei der Einsatzbegleitung im Ausland mache ich das gleiche Angebot wie im Heimatland an meinen beiden Standorten Unna und Ahlen. Ich ermögliche Soldatinnen und Soldaten auch im Ausland, ihren Glauben zu praktizieren. Oft werde ich gefragt, was in der Militärseelsorge anders ist als in anderen kategorialen Aufgaben von Kirche und Pfarrei. Ich wundere mich oft über die Frage, den in der Militärseelsorge geht es auch um Christusnachfolge. Wir feiern auch Weihnachten, Ostern und all die anderen Feste. So wie sich der Klinikseelsorger um Kranke und ihre Angehörigen kümmert, kümmere ich mich um Soldaten und ihre Angehörigen, rede mit ihnen über alle Lebenslagen und Themen.
Meiner Ansicht nach braucht es gerade heute eine spezialisierte Seelsorge, die Menschen in ihren unterschiedlichen Nöten und Freuden professionell begleitet. Zu meinen, die Pfarrei könne dies gleichermaßen gewährleisten, halte ich für Träumereien. Am Ende bleiben die Schwächsten auf der Strecke. Niemand hat alle Talente auf einmal. In der Militärseelsorge habe ich es in der Regel mit 17 – 48-jährigen Soldaten zu tun. Hier braucht es Seelsorge, die den Menschen in seinem besonderen Arbeitsumfeld wahr und ernst nimmt, die die Gefühlswelt im soldatischen Dienst versteht.
Manche mag es vielleicht wundern, aber die Eucharistiefeier spielt an meinen Standorten eine untergeordnete Rolle. Das bedeutet nicht, dass wir keine Gottesdienste feiern, aber eben anders, intensiver. Gott lässt sich doch auch an anderen Orten finden, in ganz anderen Situationen, z. B. auf dem Truppenübungsplatz, dem Segeltörn in den Niederlanden oder beim Gelöbnisgottesdienst.
Man kann auch sagen, ich hole die Menschen dort ab, wo sie stehen und versuche, sie mit Gott in Berührung zu bringen. Der Limburger Bischof Bätzing hat einmal gesagt, dass die winzigen Pflänzchen des Glaubens junger Menschen am schwersten zu pflegen sind, und ich glaube, er hat recht.
Was hilft gegen den Aggressor?
Der Heilige Vinzenz Pallotti (1795-1850) hat einmal gesagt, dass jeder Mensch sich mit seinen Talenten und Fähigkeiten einbringen kann zum Aufbau des Reiches Gottes, ausdrücklich nennt er hier auch das Gebet. Es ist schwer zu sagen, ob das Gebet gereicht hätte, den Krieg in der Ukraine zu beenden, wir werden es wohl nie erfahren.
Ich bin der Überzeugung, dass sich Gebet und Einsatzbegleitung, aber auch die politische Entscheidung für Waffenlieferungen als Mittel zur Selbstverteidigung nicht ausschließen, aber jeweils einzigartige Aktionen sind.
Mir ist schon klar, dass Jesus Gewaltfreiheit gepredigt hat, aber in einer Situation, in der alle diplomatischen Bemühungen den Frieden zu bewahren, nicht zum Erfolg geführt haben, können wir doch nicht tatenlos zusehen, wie ein Land und mit ihm seine Menschen der Versklavung anheimgegeben werden. Ich vertraue darauf, dass die Nato und die Mitgliedsstaaten – besonnen und in Absprache – der Ukraine zur Selbstverteidigung helfen.
Es gibt Möglichkeiten, meinen Protest und mein „Nein“ zum Krieg auszudrücken. Ich erinnere mich hier an Claus Schenk Graf von Stauffenberg, der am 20. Juli 1944 zum Symbol des deutschen Widerstandes gegen die Diktatur des Nationalsozialismus wurde, als er im Führerhauptquartier eine Bombe platzierte, mit der Absicht Hitler zu töten. Dieser Tag ging als Aufstand des Gewissens in die Geschichte ein. Diese Tat mussten Stauffenberg und seine Mitstreiter noch in derselben Nacht mit ihrem Leben bezahlen.
Oder denken wir an den Pallottinerpater Franz Reinisch, der als einziger katholischer Priester den Fahneneid auf Hitler verweigerte. Am 21. August 1942 wurde er in Brandenburg von den Nazis enthauptet.
Es ist wichtig, sich an die Männer und Frauen zu erinnern, die mit dazu beigetragen haben, das nationalsozialistische Terrorregime zu beenden. Der 8. Mai, der jedes Jahr in Deutschland als Gedenktag der Befreiung vom Naziregime begangen wird, gerät allzu oft in Vergessenheit. Er erinnert uns an den Tag der Befreiung, er ist aber vor allem ein Tag des Sieges der Freiheit und Friedens.
Als Christinnen und Christen fühlen wir uns dem Frieden verpflichtet, denn Jesus war ein Mann des Friedens. Er hat wie kein anderer Gewaltfreiheit gepredigt, und wir sollten es ihm gleichtun. Soweit die Theorie. Die Praxis sieht leider manchmal anders aus – und auch die Kriege der neueren Zeitrechnung. In Afghanistan, Mali und anderen Orten der Welt wird bereits seit Jahren Krieg geführt. Von diesen Kriegen nimmt in Deutschland kaum jemand Notiz. Doch auch hier sind Menschen in ihren Ländern für Freiheit und Gerechtigkeit eingetreten. Viele Deutsche stellen zu Recht die Frage, was der Krieg in Afghanistan gebracht hat und wofür Bundeswehrsoldaten gefallen sind. Aber wenn wir daran glauben, dass das höchste Gut des Menschen Freiheit ist und jeder Mensch die Möglichkeit bekommen soll, selbstbestimmt zu leben, dann ist es unsere moralische Verantwortung, dafür etwas zu tun. Auch wenn der Abzug der Nato aus Afghanistan am Ende in einer Katstrophe endete, so hat dieser Friedenseinsatz doch eines gebracht: Er hat den Menschen dort für knapp 20 Jahre die Tür zu Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden geöffnet.
Natürlich war es auch mein Wunsch, dass Millionen Afghanen diese Tür auch heute noch offenstehen könnte, aber es kam anders. Wann haben wir zuletzt in den Fürbitten für Afghanistan gebetet?
Der damalige Bundeskanzler Konrad Adenauer hat sich seinerzeit gegen faule Kompromisse ausgesprochen, als er das Angebot der Sowjetunion ausschlug, zugunsten der Wiedervereinigung auf die Nato-Bindung zu verzichten. Für mich war es in den ersten Wochen seit Ausbruch des Krieges interessant zu beobachten, dass viele Friedensorganisationen, die in regelmäßigen Abständen bei den Weltfriedenstagen der Militärseelsorge protestierten und die Bundeswehrsoldaten als „Mörder“ betitelten, verstummten.
Was tun angesichts dieser Katastrophe? Beten ist das eine, für Frieden eintreten das andere. Doch was hilft den Menschen wirklich in dieser Situation, wenn alle Bemühungen, den Frieden auf friedlichem Weg herbeizuführen, scheitern? Sollen wir die Menschen in der Ukraine ihrem Schicksal überlassen? Sollen sie, wie von Russland gefordert, auf ihre Freiheit und Eigenstaatlichkeit verzichten, sollen sie die Werte, die bei uns im Grundgesetz verankert sind, aufgeben? Für welchen Frieden? Die ukrainische Regierung hat um Hilfe gebeten, und eine Reihe von Staaten, darunter Deutschland und die USA, haben Hilfe zugesichert. Im Verbund mit anderen Nato-Staaten und mit Zustimmung des deutschen Bundestages unterstützt die Bundeswehr die Ukraine. Und das ist gut so.
Erstveröffentlichung: Ordenskorrespondenz – Zeitschrift für Fragen des Ordenslebens, Heft 2/2023, www.ordenskorrespondenz.de
Foto Zerstörungen in der Ukraine 2022: Polnische Pallottiner; Profilfoto P. Fries: Maria Kessing.
Über den Autor/ die Autorin
Pater Roman Fries SAC
- Jahrgang 1971
- Ausbildung zum Elektroinstallateur
- Ausbildung zum Gesundheits- und Krankenpfleger
- Studium der Theologie auf Burg Lantershofen
- 2004 Noviziat der Pallottiner
- 2010 Priesterweihe
- 2010 – 2014 Kaplan in Hamburg und Vallendar
- 2014 – 2016 Klinikpfarrer in Zell an der Mosel
- 2016 – 2022 Leiter des Katholischen Militärpfarramtes Koblenz II
- Seit 2/2022 Leiter des Katholischen Militärpfarramtes Ahlen
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