Eingemischt Blog-Beitrag von Prof. Holger Zaborowski

Muße – heute?

Wer gelegentlich „müßig“ in der Gegenwart lebt, wer nicht in die Zukunft, sondern nach innen schaut, wer den Sonntag heiligt oder den Feierabend wirklich feiert, während anderswo alles dem Dienst, dem Schaffen, den nächsten Schritten untergeordnet wird, kann zu einem Zeugen der Muße werden. Solche Zeugen sind selten. Sie strahlen Ruhe aus und auch Glück. Sie bemühen sich nicht um etwas, und sei es auch die Muße selbst, sondern sind einfach bei sich. Sie erfahren Freiheit und können noch hören – auf den Rhythmus der Natur, die Worte der Altvorderen, die Ansprüche ihres eigenen Leibes, die Stimme ihrer Seele oder den Ruf Gottes. Die Zeit ist ihnen zu wertvoll, als dass sie ihre Stunden immer nur für etwas nutzten, das noch gar nicht da ist. Sie stehen dazu, dass sie der Muße bedürfen, und wissen, dass Arbeit zwar wichtig ist, sie aber nie von allem Ungenügen erlösen wird.

Solche Müßiggänger können zu Vorbildern gelungenen Lebens werden. Diese Vorbilder sind gerade heute – in unmüßigen Zeiten – notwendig. Denn man kann sich Muße nicht wie einen abstrakten Inhalt aneignen. Nur im lebendigen Vollzug, als Haltung kann man sie einüben. Und eine solche Haltung, in der man „mußevoll“ handelt, lernt man an Beispielen, so, wie man eine Tugend wie die Gerechtigkeit nicht theoretisch lernen kann, sondern anhand von gerechten Menschen, im Umgang mit ihnen erwirbt. Daher sind Gemeinschaften der Muße, geteilte Mußeerfahrungen von besonderer Bedeutung. Schulen und Universitäten haben einmal Horizonte der Muße eröffnet. Kirchen waren auch Räume der Muße – des Gotteslobes allein um des Lobes Gottes selbst willen. Auch der Sport kann solche Räume eröffnen: dort, wo man um des Spieles willen spielt. In Kunst, Literatur und Musik eröffnen sich ebenfalls Räume der Muße: des verweilenden Hinsehens, des aufmerksamen Hinhörens oder des betrachtenden Hinschauens. Und manchmal kann ein Spaziergang, ein kurzes Gespräch, ja, vielleicht eine kleine Geste einen Raum eröffnen, in dem sich Muße ereignen kann – ganz plötzlich, unvorhergesehen und so, dass das Geschenk der Muße nur im Rückblick bewusst wird. Im Moment selbst, wenn sie da ist, entzieht sich die Muße. Sie ist die Unmittelbarkeit des Lebens selbst.

Nur wenn sich einem diese Lebensräume einmal eröffnet haben, kann man sie auch später wieder betreten. Daher wundert es nicht, dass es viele Menschen gibt, die, wenn sie nicht mehr arbeiten können, nichts mit sich und ihrer Zeit anzufangen wissen. Denn sie haben nie jene Freiheit erfahren, die sich in Zeiten der Muße eröffnet. Wo sie sich nahe kommen könnten, fliehen sie vor sich selbst. Und wo sie etwas Anderes und Neues hätten erfahren dürfen, reduzieren sie dieses auf das bereits Bekannte, auf ihr eigenes Maß. Sie füllen die freie Zeit mit irgendwelchen Tätigkeiten, lenken sich ab, beschäftigen sich mit diesem oder jenem, um bloß nie die Herausforderungen der Muße erfahren zu müssen.

Vielleicht benötigt man daher heute nichts so sehr, wie das, was das alte Wort „Muße“ anzeigt: den Widerstand zum Einerlei der Arbeit, die Befreiung von Zwängen, die lange schon den Schein der Normalität angenommen haben, die Feier des Lebens. Mußestunden sind nämlich Feierstunden. Und umgekehrt sind Feierstunden Zeiten der Muße. Wer wirklich feiert – einen Geburtstag, eine Hochzeit, ein politisches oder religiöses Fest oder auch einfach seinen Feierabend – verfolgt zunächst keine andere Absicht als jene des Feierns. Die Psychologie oder die Soziologie wissen sehr viel von den sekundären Funktionen der Feier zu berichten. Eine Feier verleiht beispielsweise der Gemeinschaft von Menschen Ausdruck und intensiviert diese. In jedem Fest geschieht jedoch zunächst etwas, das die funktionalistische Logik des Alltags durchbricht – und sie überhaupt erst möglich macht. Im Fest schenkt sich Gegenwart und spricht sich Sinn zu. Wäre dies nicht der Fall, würde das Feiern schnell trocken und öde werden, etwas, das man auch noch im Sinne der Arbeit tun muss.

Allerdings ist das Fest der Muße keine selbstbezogen-egoistische Form des Feierns. Zwar geschieht in der Muße eine Kultivierung des Selbst. Doch geschieht dies, indem das Selbst immer auch bei einem anderen ist. In der Muße eröffnet sich eine eigenartige Spannung von Selbstbezogenheit und Selbstvergessenheit. Wenn man jemanden beobachtet, der voller Muße ein Buch liest, so geht von ihm eine sehr würdevolle Selbstbezogenheit aus. Doch zugleich ist ein lesender Mensch immer ganz bei einem anderen – wer oder was auch immer dies sei. Indem er ganz bei sich ist, hat er sich ganz vergessen. Diese Spannung von ganz Bei-sich-Sein und zugleich ganz Bei-einem-Anderen-Sein kennzeichnet echte Muße. In ihr muss der Mensch nichts mehr bewirken oder leisten. Gelassen darf er das, was ist, sein lassen, was es ist. Nichts muss er mit sich oder mit der Welt machen. Er darf einfach sein. Die erfüllte Zeit der Muße kann daher zu einem Bild erlösten Menschseins werden.

Quelle: „Arbeit 5.0. oder Warum ohne Muße alles nichts ist“ (Wallstein Verlag).
Zum einen ist dies der Begleitband zum diesjährigen Kultursommer des Landes Rheinland-Pfalz, zum anderen gehört er in das Projekt „kulturelle Diakonie“, das der Autor zusammen mit Martin W. Ramb vom Bistum Limburg unter dem Titel „DENKBARES“ entwickelt hat. Es gibt in der nächsten Zeit einige Vorstellungen des Bandes. Das detaillierte Programm von DENKBARES gibt es hier.

Über den Autor/ die Autorin

Bild: © Timo Michael Kessler

Professor Dr. Dr. Holger Zaborowski

Prof. Dr. Dr. Holger Zaborowski ist seit Januar 2012 Inhaber des Lehrstuhls für Geschichte der Philosophie und philosophische Ethik an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Vallendar und seit 2017 Rektor der Hochschule; o. Mitglied der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste. U. a. Mitherausgeber des Heidegger-Jahrbuches, der Martin-Heidegger-Briefausgabe und des Jahrbuches für Religionsphilosophie. Neuere Buchveröffentlichungen u. a.: Menschlich sein. Philosophische Essays (2016); Tragik und Transzendenz. Spuren in der Gegenwartsliteratur (2017). 2017 erhielt er die Aquinas Medal der University of Dallas, USA.