Jedes Chaos will ein Anfang sein

Jedes Chaos will ein Anfang sein

Wir dürfen uns nichts vormachen: Die Zahl der Kirchenmitglieder wird weiter abnehmen, die Zahl der Theologiestudierenden wird weiter abnehmen, die Zahl der Anwärterinnen und Anwärter auf einen pastoralen Dienst wird abnehmen und es gibt auch keinen Grund zu der Annahme, dass die Entwicklung der Zahlen bei Ordenseintritten oder Priesterkandidaten zunehmen würde. War Kirche noch bis tief in die 90er Jahre ein anerkannter Teil der Gesellschaft, so wird Kirchenmitgliedschaft heute gefühlt rechenschaftspflichtig. Besonders die Skandale der vergangenen zehn Jahre und der Umgang damit beschleunigte die Entstehung dieses Klimas. Katholisch zu sein wird mehr und mehr als Nachteil erlebt.

Mir haben schon mehrere Personen erzählt, dass sie die Förderung durch eine katholische Institution nicht mehr in ihren Lebenslauf schreiben oder die vorangegangene Beschäftigung bei der katholischen Kirche wird bei Bewerbung auf eine neue Stelle kritisch angesprochen.

Inwiefern fordert diese Veränderung Berufungspastoral heute heraus? Unsere Welt, unsere Gesellschaft und damit auch unsere Kirche befindet sich in einem enormen Transformationsprozess. Es fühlt sich so an, als würde eine wunderbare Kathedrale durch ein Erdbeben nicht nur erschüttert, sondern als stürtze sie in sich zusammen. Selbst wenn ich versuchen würde, die zusammenfallenden Wände zu stützen, die Glasfenster zu bewahren und die steinernen Skulpturen zu retten – es wäre vergeblich. Ich würde mich nur selbst in Lebensgefahr bringen. Diese Form von Kirchenbau ist zu Ende. Die Rolle der Kirche in unserer Gesellschaft verändert sich. Ich glaube, das müssen wir uns nicht nur rational, sondern auch emotional klar machen.

Es braucht den Mut, sich zuzugestehen, dass man nicht wieder zusammensetzen kann, was zusammengebrochen ist. Es braucht den Mut, zu trauern, den Schmerz zuzulassen. Trauer ist auch eine Form der Würdigung des Guten und Schönen, was da war, aber vergangen ist. Abschied nehmen macht frei für Neues – auch wenn es ungewiss ist. Ich glaube, dass viele Blockaden, viel Wut, viele Enttäuschungen und gefühlte „Erschlagenheit“ in unserer Kirche mit der fehlenden Trauerarbeit zusammenhängen. Berufungspastoral könnte helfen, die Wahrheiten zu betrachten, Schmerz gemeinsam auszuhalten, die Gefühle, die aus Trauer und Abschied entstehen, anzuerkennen. Und vielleicht kann Berufungspastoral den Menschen dabei helfen, sich selbst zu verstehen und zu deuten. Wenn das gelingt, werden Menschen frei, sich neu vom Ruf Gottes locken zu lassen, Abschied zu nehmen, und sich seiner Führung ins Ungewisse anzuvertrauen. Jedem Chaos liegt ein Neuanfang inne.

Wenn ich in dieser chaotischen Gemengelage auf die jungen Menschen schaue, dann nehme ich bei ihnen einen tiefen Wunsch nach einem gelingenden Leben wahr – d. h. Talente entfalten, Zugehörigkeit spüren, eine sinnvolle Tätigkeit haben und mit sich, Gott und der Welt im Einklang sein. Gleichzeitig lebt in der jungen Generation ein starkes Gefühl der Unsicherheit, ausgelöst von drohenden Krisen, politisch, klimatisch oder gesellschaftlich. Sie fühlen sich dem Chaos hilflos ausgeliefert. Im Wunsch nach einer sich entfaltenden Lebendigkeit und im Gefühl der Überforderung suchen junge Menschen nicht in der Kirche Hilfe oder Unterstützung zur Bewältigung. Denn sie vermuten eben nicht, dass der in und mit der Kirche gelebte christliche Glaube für ihre Fragen und ihre Sehnsucht relevant oder sogar hilfreich sein könnte. Erschwerend kommt eine „Unverträglichkeit“ hinzu: Ihr fluides, an Kompetenz orientiertes Lebensgefühl kann nur schwer an die institutionell, hierarchieorientierte Verfassung der Kirche anknüpfen. Junge Menschen wollen sich einbringen, mitgestalten. Sie akzeptieren nicht, dass Ressourcen zur Gestaltung von Kirche an eine Stufe in der Hierarchie gebunden sind. Wo Kompetenz ist, soll auch Gestaltungsspielraum ermöglicht werden. Zwischen jungen Menschen und der Kirche ist eine tiefe Kluft entstanden. Infolgedessen droht uns als Kirche, eine ganze Generation zu verlieren.

Wie könnte sich Berufungspastoral durch die Botschaft von jungen Menschen herausfordern lassen? Ich glaube, dass diese tiefe Kluft nicht durch ein Mehr an Worten oder ein Mehr an Taten überwunden werden kann. Ein Mehr an Worten gleicht einer Inflation: Man bewirkt immer weniger. Ein Mehr an Taten gleicht nur einem wilden Schlagen mit Flügeln, ein Aktionismus, der gerade den ersehnten Ruheplatz für die eigene Suche oder die eigenen Sorgen nicht ermöglicht. Stattdessen braucht es eine neue Haltung. Das II. Vatikanum schlägt vor, als Kirche zu sagen: „Wir sind unterwegs, wir sind auf der Suche. Möchtest Du mitkommen?“ Ich denke, es wäre ein sehr einladendes Zeichen zur eigenen Suche zu ermutigen und Befähigung für diese Suche anzubieten.

Außerdem halte ich zwei weitere Sichtweisen für hilfreich: Erfahrung sollte Vorrang vor der Reflexion haben und Freilassen sollte zu den Handlungsgrundsätzen zählen. Das meint: Wenn junge Menschen keine tröstliche, befreiende und sinnstiftende Erfahrung durch den Kontakt mit dem lebendigen Gott selbst machen, werden sie nicht verstehen, über was wir reden. Die gemeinsame Erfahrung kann aber zur Grundlage einer gemeinsamen Reflexion werden. Gleichzeitig ist wichtig, dass die Einladung zur Suche nach der eigenen Berufung immer freilassend ist. Jeder suchende Mensch ist ein Botschafter von Gott selbst.

Wir als Kirche sind lernwillig und auch lernfähig. Ich denke, wenn Berufungspastoral bzw. die Gemeinschaft der Glaubenden die Kultur einer solchen Berufungssuche fördert, dann wird lebendige Kirche wachsen und die entstehende Gestalt wird sich durch vielfältige Arten und Formen von Berufung auszeichnen. Denn Berufung ist der Ruf Gottes an jeden Menschen zu einem gelingenden Leben – das hat das II. Vatikanum grundlegend verstanden.

Auch in diesem Chaos liegt ein Anfang. Im Sinne von Genesis 1: Über dem Chaos des Einzelnen wie der Gemeinschaft schwebt der Heilige Geist und will neuen Lebensgrund und neue Lebendigkeit hervorbringen.

Unsere Zeiten sind chaotisch. Sie fordern nicht nur die Berufungspastoral heraus, sondern uns alle. In diesem Chaos gibt es keinen Halt, indem wir uns an Zahlen oder an vergangene Bilder klammern können. Wir müssen der Versuchung widerstehen, uns gegenseitig zu misstrauen, zu konkurrieren oder zu beschimpfen. Die große Berufung, die in diesen Zeiten von Gott an uns ergeht, lautet: Vertraut mir, dass meine Schöpferkraft wirkt. Vertraut mir, dass aus Tod neues Leben wird. Vertraut einander, denn so werdet ihr die Herausforderungen meistern. Vertraut euch selbst, denn in jede und jeden habe ich einen Ruf gelegt. Gönnt euch Sabbatzeiten, denn in den kleinen und großen Sabbatzeiten werdet ihr mein schöpferisches und erlösendes Wirken erkennen, dass mit mir jedes Chaos ein Anfang sein wird.

Foto: „Gemeinsam auf dem Weg – gemeinsam am Feuer“
Fotograf: familylifestyle über adobe stock

Über den Autor/ die Autorin

Pater Clemens Blattert SJ

Pater Clemens Blattert SJ trat 2003 in den Jesuitenorden ein, wurde 2009 zum Priester geweiht, war Studentenpfarrer in Leipzig und leitet die Zukunftswerkstatt der Jesuiten in Frankfurt am Main. 2018 war er Berater der XV. Weltbischofssynode zum Thema „Die Jugend, der Glaube und die Berufungsunterscheidung“. Seit 2021 arbeitet er als Direktor des Zentrums für Berufungspastoral.