Freiheit und Demokratie wagen
Wer möchte das nicht, frei sein. Freiheit ist eine der ganz großen Sehnsüchte und Hoffnungen der Menschen. Ohne Freiheit scheint menschenwürdiges Leben nicht möglich zu sein. Freiheitlich-demokratische Gesellschaften sind darauf aufgebaut: auf Freiheit, Demokratie, Achtung der Menschenwürde und der Menschenrechte, auf soziale Gerechtigkeit, auf Solidarität, Subsidiarität und Gemeinwohl. Darum ist in ihnen manches auch so langatmig, so schwierig und so kompliziert. Manchmal möchte man dazwischen gehen und einfach nur dreinschlagen.
Freiheitlich-demokratische Gesellschaften mit ihren Grundwerten sind in Gefahr. Der Sturm auf das Kapitol in Washington hat uns das nur allzu deutlich vor Augen geführt. Freiheitlich-demokratische Gesellschaften drohen zu zerbrechen. Ein Rechtsruck ist in vielen dieser Gesellschaften zu verzeichnen. Polen, Ungarn, Frankreich, Italien oder auch Deutschland mit seiner AfD sind da zu nennen. Machthaber in sogenannten staatlich gelenkten Demokratien, allen voran China und Russland, verweisen auf die Stärke ihrer Systeme, gerade auch in Krisenzeiten wie der jetzigen, die durch die Coronapandemie hervorgerufen ist. Diktatoren aller Couleur betreiben im Windschatten von Corona weiterhin ihr blutiges und unterdrückerisches Geschäft. Wie agieren und reagieren Kirchen, Christen und christliche Gemeinschaften?
Freiheit gehört zum Grundbestand der biblischen Botschaft. Am Anfang des jüdisch-christlichen und auch des islamischen Glaubens steht Abraham. Ihm wird gesagt: Zieh aus in das Land, das ich dir zeigen werde. Ein Segen wirst du sein und alle Sippen der Erde sollen durch dich Segen erlangen. Es folgt im jüdisch-christlichen Glauben die große Tradition des Exodus, die die wunderbar erlebte Befreiung aus der Unterdrückung in Ägypten feiert. Gott rettet und befreit aus allem, was Menschen unterdrückt und ausbeutet, klein hält, krank macht und kaputt spielt. Gott ist auf Seiten der Benachteiligten und Schwachen zu finden. Jenseits aller notwendigen Vorsichtsmaßnahmen wegen Corona ist insbesondere der biblische Gottesglaube Sachwalter von Freiheit und Befreiung.
Die Coronakrise macht vieles deutlicher und klarer, was vorher schon unterschwellig vorhanden war und schwelte. Christen und Kirchen können eine Begrenzung von Freiheit nicht leichtfertig hinnehmen. Wo immer Freiheit bedroht ist, müssen sie sich zu Wort melden. Allerdings müssen sie sich auch dagegen zur Wehr setzen, wenn im Namen von Freiheit Gesundheit und Leben von Menschen aufs Spiel gesetzt wird oder wenn Freiheit missbraucht wird von Verschwörungstheoretikern oder von mehr oder weniger Rechts- oder Linksradikalen. Freiheit ist nie endgültiger Besitz. Sie muss immer wieder neu gewagt werden, jeden Tag. Nicht zuletzt machen uns das die biblischen Erzählungen deutlich. In der langen Zeit der Wanderung des Gottesvolkes Israel durch die Wüste zeigt sich, wie anstrengend und mühsam Freiheit ist. Immer neu muss um sie gerungen werden gegen Versuchungen zu Vereinfachung oder gegen Tendenzen von Bequemlichkeit. Denn Freiheit bedeutet nicht nur Freiheit von, sondern immer auch Freiheit zu. Freiheit bedeutet immer auch Bindung an Erwünschtes, an das Gute, Wahre und Schöne, an Gott. Das war damals so und ist auch heute noch so. Das macht Freiheit ja so anfällig, in unserem persönlichen Leben, in Gesellschaft, Staat und Kirche. Die Menschen in Belarus oder Hongkong zeigen in jüngster Zeit, was sie bereit sind, der Freiheit wegen, auf sich zu nehmen. Die Freiheit der Gedanken aber lässt sich nicht nehmen und die innere Freiheit. Aber auch um die muss jede und jeder einzelne sich mühen und ringen.
Ähnlich wie mit der Freiheit verhält es sich mit der Demokratie. In Bezug auf Gesellschaft und Staat ist dies unbestritten. In Bezug auf Christsein und Kirche wird man jedoch immer wieder auf die heilige Ordnung Gottes verwiesen. Es gibt Kreise, die sich daran nicht stoßen, es gibt aber auch Menschen, die sich daran reiben. Vor allem Frauen. Sinnvoll und notwendig wäre es, wenn Gottes Macht und Herrschaft im Sinne von power (engl.) verstanden würde, und nicht im Sinne von „Herr“schaft, Macht von Herren und Männern. Das Wort power steckt im englischen Wort empowerment. Empowerment bedeutet, jemanden zu etwas ermächtigen oder befähigen. Es würde also darum gehen, im Binnenraum des Christlichen Christ*innen zu stärkerem Glauben, größerer Hoffnung und mehr Liebe zu befähigen. Nach außen würde es darum gehen, dass Christ*innen immer besser und mutiger für Freiheit, soziale Gerechtigkeit und Chancengleichheit eintreten können. Nicht nur nach außen, sondern auch innerhalb der Kirche. Von einer geschwisterlichen Kirche träumte Vinzenz Pallotti, der 1795 bis 1850 lebte und dessen Fest die Katholiken mit den pallottinischen Gemeinschaften am 22. Januar begehen. Die Coronakrise lässt verstärkt danach fragen, wie sich unser Glaube, wie sich Kirche und unsere Art, Gottesdienst zu feiern, hier und heute verändert und verändern muss. Sie stellt verschärft die Frage danach, wie ein guter Gott, der das Heil der Menschen will, in einer Welt voller Unheil da ist, lebt und wirkt.
Über den Autor/ die Autorin
Pater Heinz-Willi Rivert SAC
Geboren 1960 in Rheinbach bei Bonn. Katholischer Priester in der Gemeinschaft der Pallottiner, Diplom in Theologie und in Psychologie. Ehemals in der Jugend-, Pfarr-, Schul- und Hochschulseelsorge tätig, kurz nach der Wende von 1989 auch für drei Jahre im Bistum Erfurt. Seit 2020 lebt er im Missionshaus der Pallottiner in Limburg/Lahn. Er ist tätig in der Seelsorge, in religiöser Erwachsenenbildung und in der freien Mitarbeit bei verschiedenen Publikationen.
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