Bleibt das jetzt normal?
Vieles wird nach dem Exit aus der Corona-Krise anders sein als vorher. Aber wie? Manches lässt an die Zeit vor 75 Jahren denken, als der 2. Weltkrieg zu Ende war. Da sah das Leben auch in vieler Hinsicht von heute auf morgen ganz anders aus. Die meisten Überlebenden atmeten angesichts der vielen Trümmer erst einmal auf, doch dann bewegten sie sich von Tag zu Tag mehr, ohne viel Nachdenken, in einer „neuen Normalität“. Die meisten Deutschen waren der Meinung, für den zurückliegenden Krieg und alles Unrecht und die Verbrechen sei nur eine kleine Nazi-Clique verantwortlich gewesen, zu der immer nur die anderen gehörten. Die NS-Symbole waren schnell verschwunden, vieles hat sich stark gewandelt. Im Krieg hatten zahlreiche Frauen notgedrungen in der Arbeitswelt ungewohnte Tätigkeiten übernommen und in den Familien oft die Alleinverantwortung. Ihr neues Selbstbewusstsein war auch für manchen Kriegsheimkehrer eine Herausforderung. Die junge Generation fand, zumindest im Westen, eine neue Art von Musik „dufte“, vom Jazz bis zum Schlager, was zu einer nie zuvor für möglich gehaltenen Nähe zu den Besatzern führte. Durch den Zuzug von zehn Millionen Flüchtlingen wurden die traditionellen landsmannschaftlichen und konfessionellen Milieus immer mehr aufgeweicht, obwohl es anfangs gegen die Ostpreußen oder Schlesier bei den Bayern oder Westfalen ähnliche Aversionen gab wie heute mancherorts gegenüber Syrern oder Nordafrikanern. Im Vordergrund stand die praktische Bewältigung des Alltags unter total veränderten Bedingungen. Zur „neuen Normalität“ gehörte bereits 1946 wieder der Karneval, aber auch das Tabu zu fragen, warum die Naziherrschaft zwölf Jahren von der Mehrheit gestützt war. Kaum jemand wollte da mitgemacht haben. Dass der Exit vom Krieg zum Frieden im Großen und Ganzen gut gegangen ist, war einem erstaunlichen Gemeinschaftsgeist zu verdanken. Da half zum Beispiel von außen der Marshallplan und von innen der Einstieg in die soziale Marktwirtschaft. Trotzdem hat sich das Virus des Egoismus zurückgemeldet und den Graben zwischen arm und reich wieder neu anwachsen lassen.
Der Überfall von Corona hat trotz allem vergleichenden Schielen auf andere Nationen letztlich klar gemacht: Wir sitzen alle im gleichen Boot. Dennoch hat inzwischen schon innerhalb und außerhalb unserer Grenzen der Kampf um den besten Platz an den plötzlich sprudelnden Geldquellen begonnen. Jeder sagt: Es geht uns Ganze, um meine Existenz, denn die ist die wichtigste. Hoffentlich ist das Grüßen mit den Ellenbogen nicht die Ansage für eine „neue Normalität“ des Egoismus, sondern eher für die gegenseitige Rücksichtnahme. Die augenblickliche Maskenpflicht ist kein Versteckspiel, sondern eine Aufforderung zur gemeinsamen Verantwortung und zum Einsatz für gleiche Rechte, auch über den Exit hinaus.
Beitragsbild: vlarvix Adobe Stock
Über den Autor/ die Autorin
Pater Peter Hinsen SAC
geboren 1944 in Friedrichshafen, seit 1971 Priester in der Gemeinschaft der Pallottiner. Nach vielen Jahren in der Erwachsenenbildung, in der Priesterausbildung und als Autor von Büchern und Zeitschriften (u.a. „das zeichen“) lebt und arbeitet er jetzt in der Kommunität Friedberg (Bayern).
Die meisten Überlebenden atmeten angesichts der vielen Trümmer erst einmal auf, doch dann bewegten sie sich von Tag zu Tag mehr, ohne viel Nachdenken, in einer „neuen Normalität“
Ich bin erstaunt über diese Einschätzung. Bis weit in die 1990iger Jahre saßen die meisten in der alten BRD lebenden Jüdinnen und Juden „auf gepackten Koffern“.