Dürfen wir lügen?

Dürfen wir lügen?

Jein. Die Bibel verbietet im achten Gebot die Falschaussage gegen den Nächsten. Also Verleumdung und bewusste schädigende Unterstellungen sind sündhaft. Und wer unter Eid lügt, er habe nicht gelogen, lügt doppelt und wird wegen Meineids mit Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr bestraft. (§ 154 STGB)
Jesus sagte einmal, wir sollten klug sein wie Schlangen, aber arglos wie Tauben. Nun gilt die Schlange als doppelzüngig und aalglatt, nicht gerade ein Vorbild. Was also? Ist lügen gerechtfertigt?

Manchmal kann die Wahrheit schaden
Da fragt der Lehrer den Michael. ob er bei seinem Nachbarn abgeschrieben habe. Michael verneint und lügt. Jetzt fragt der Lehrer dessen Nachbarn, ob Michael abgeschrieben hat. Der will seinen Freund nicht verraten und lügt ebenfalls. Eine solche Lüge ist gerechtfertigt, schon allein deshalb, weil es hier der Lehrer ist, der unnötig eine Gewissensnot hervorruft. Die Wahrheit hätte Verrat bedeutet und wohl auch das Ende der Freundschaft.
Nicht immer sagt der Arzt die volle Wahrheit; er kann sie verschweigen, wenn der Patient sie nicht ertragen könnte. Und wenn sich eine Person hinter Ihrer Gartenhecke versteckt, weil eine Horde Skinheads hinter ihm her ist, dann sollten Sie sehr überzeugend lügen: „Den ihr sucht, ist nicht hier; er ist die Straße hinten rechts reingelaufen!“ Sogenannte soziale Lügen sind geradezu geboten, wenn es darum geht, Leben zu schützen oder auch den guten Ruf eines Menschen zu wahren. Es darf nie um persönlichen Vorteil oder auf Kosten anderer gehen. Wollen Sie wirklich dem Gastgeber sagen, der Grund für Ihr vorzeitiges Verlassen der Party sei Langeweile?

Wie steht es um die Wahrheit von Zeugenaussagen?
Schlecht. Nicht dass Zeugen lügen würden, vielmehr sind sie oftmals Opfer von falschen Rückschlüssen, von Erinnerungslücken und Sinnestäuschungen. Auch spielen
Hormonhaushalt, Stoffwechsel, Hirnstrukturen, Gefühle, Erwartungen, Einstellungen, Medikamenten- und Alkoholeinfluss eine Rolle. Manchmal werden eigene Gedanken und Empfindungen hineinprojiziert, und so kann man völlig schuldlos verzerrte Aussagen machen.
Selbst ein Lügendetektor, der körperliche Reaktionen misst, die ebenfalls keinen Rückschluss bieten auf Wahrheit oder Lüge, wird in Deutschland als ungeeignetes Beweismittel im Sinne des § 244 III 2, 4. Alt. StPO abgelehnt.
Und der Zeuge, der gerade einen Fahrradsturz beobachtet und kurz darauf die Sirene des Krankenwagens hört, erzählt am Stammtisch, wie rasch doch die Unfallhilfe kam. Was er nicht weiß: der Krankenwagen wurde zu einem anderen Unfall gerufen. Unser Zeuge aber stellte eine Verbindung zwischen beiden Ereignissen her. Er log nicht, er konfabulierte. Viel Unrecht wird zugefügt durch so ein falsches Kausaldenken, aber auch durch falsche Deutungen oder Verkennung der Situation: man sieht in der Dämmerung eine dunkle Gestalt, die tatsächlich aber ein Ast war.

Jeder sieht nur einen Teil der Wahrheit
Sie stehen am Fenster und sehen einen roten Opel gerade wegfahren, der ein parkendes Auto gerammt hat. Eindeutig Fahrerflucht. Dasselbe beobachtete ein Mann auf der anderen Straßenseite. Vor Gericht beschwört dieser Mann, dass der Wagen blau war, nicht rot. Sie hingegen bestehen darauf, dass der Wagen rot war. Schließlich ergibt die Nachforschung: der Opel war links blau, rechts rot lackiert. Und so trat mal wieder zu Tage, dass beide die einseitige Wahrheit sagten.
„Mein Mann ist immer so laut und aggressiv, deshalb bin ich lieber still und halte den Mund“ klagte eine Ehefrau. Und ihr Mann konterte: „Es ist genau umgekehrt: weil meine Frau immer so schweigsam und passiv ist, rege ich mich auf und werde laut.“ Hier haben wir es mit der subjektiven Wahrheit zu tun; sie blendet einen Teil aus. Wahrheit ist die Übereinstimmung von Sachverhalt und dessen Beschreibung. Diese vollständig und fehlerfrei darzustellen, ist fast unmöglich.

Angeblich lügen wir bis zu 30 mal täglich
Es gibt die breite Zone der Halbwahrheiten und sozial verträglichen Lügen. Komplimente, Höflichkeiten, Beschönigungen, Auslassungen, Ausreden und der unerschöpfliche Bereich der Diplomatie bewegen sich in dieser Zone. Ihr Zweck ist es, die Beziehung zu pflegen, den anderen nicht zu verprellen- oder auch etwas erreichen zu wollen, z.B. ein Entgegenkommen, eine Gefälligkeit. Jeder weiß doch, dass die Floskel „es tut mir leid“ aus dem Mund eines sturen Kontrolleurs nicht der Wahrheit entspricht. So ein Typ hat kein Mitleid. Wo er sich eigentlich schämen müsste, beruft er sich auf Gesetze. Und wenn Klaus Kleber seine Zuschauer mit einem „Guttenabend“ begrüßt, und dann von Mord und Seuchentoten berichtet, ist es kein guter Abend.
Halten wir fest: Lügen ist für unsere Psychohygiene wichtig und sogar ein Aspekt sozialer Intelligenz. Wer hätte es gedacht?!

 

Bild: © deagreez adobestock

Über den Autor/ die Autorin

Pater Dr. Jörg Müller SAC

Pater Dr. Jörg Müller SAC stammt von Bernkastel-Kues an der Mosel (geb 1943). Er durchlitt die Schulzeit, ist zweimal sitzengeblieben, und hat sich dann in den Studien der Theologie , Philosophie und Pädagogik (Trier, Innsbruck), Psychologie und Pathologie (Salzburg) davon erholt. Er war Lehrer an verschiedenen Schulen in Trier, Salzburg, Tamsweg und Saarburg, dann Psychotherapeut mit eigener Praxis, bis ihn der Frust packte und er in Tunesien eine T-Shirt-Fabrik baute. Vom Partner betrogen,  kehrte er zurück nach Deutschland und trat in die Gemeinschaft der Pallottiner  ein. Das war 1989 am Tag des Mauerfalls. Im Pallotti Haus Freising gründete er die Heilende Gemeinschaft, eine stationäre, therapeutische Einrichtung für Menschen in seelischer Not. Inzwischen hat er über 60 Bücher geschrieben und 4 Lied-Cassetten herausgebracht; er ist unter anderem auch als Kabarettist  unterwegs.