Mauern im Kopf

DIE MAUERN IM KOPF

„Sie haben ja völlig Recht, aber …“ sagte jetzt schon zum wiederholten Mal die ältere Dame, „aber wenn Sie wüssten, wie mein Mann reagiert!“
„Ja schon, Herr Doktor, aber so einfach ist das nicht“ betonte Herr K. die Unmöglichkeit, seinen Betrieb an den Sohn weiter zu geben. „Wissen Sie, mein Sohn hat zwar studiert und wäre auch imstande die Firma zu leiten, aber ich halte ihn für zu stürmisch und unbedacht.“

Dieses stete „Ja, aber“ macht alles zunichte. Es ist die berühmteste und stabilste Mauer im Kopf vieler Menschen.

Wer kennt sie nicht: die sturen Behörden und die unbeweglichen Beamten, deren Gehirnwindungen einer chinesischen Mauer gleichen. Mit Berufung auf Paragraphen und Bestimmungen: Ordnung muss sein, Vorschrift ist Vorschrift und wo kämen wir denn hin, wenn… Die so erbauten Mauern machen viele unserer Mitmenschen erkenntnisresistent.

Wo Konsequenz drauf steht, ist oft Sturheit drin. Mir fällt auf, dass Leute oft Pflicht nennen, was näher betrachtet nur stures Verhalten ist.

Mich mag keiner“ – „ich muss perfekt sein“ – „Gott straft mich“ – „ich darf nicht nein sagen“ – „ins Grab bringst du mich noch“ usw. Wer in solche Fallen tappt, ist gefährdet. Er verbraucht fast die ganze Lebensenergie zur Verdrängung seiner Ängste und seiner Wut. Da bleibt nichts mehr übrig für das Leben selber. Er ist buchstäblich eingemauert und stirbt einen langsamen seelischen Hungertod.

Die Neurobiologie hat festgestellt, dass jahrelanges bestimmtes Denken und Fühlen die Nervenzellverschaltungen beeinflussen. Wer beispielsweise vorwiegend negativ und pessimistisch denkt, verstärkt eine bestimmte Region im Seitenlappen, wobei die „positive“ Region verkümmert.

Jesus hat die pharisäischen Betonköpfe mit seinen Forderungen provoziert. Er hat das Denken seiner Zeit auf den Kopf gestellt, indem er mit Sündern und Frauen, mit Aussätzigen und Nichtjuden Kontakt pflegte. Indem er am Sabbat Gutes tat und das Gesetz unter den Menschen stellte. Er mischte sich ein zu Gunsten der Armen und Ausgestoßenen; er geriet in Zorn über Selbstgerechte und Gesetzesfromme.

Es wird Zeit, dass wir die Mauern schleifen und das Leben lebendiger machen.

Hinweis: 30 Texte von Pater Müller erscheinen demnächst im Fromm-Verlag unter dem Titel „Kurz nachgedacht – Das Wort zum Werktag“

Über den Autor/ die Autorin

Pater Dr. Jörg Müller SAC

Pater Dr. Jörg Müller SAC stammt von Bernkastel-Kues an der Mosel (geb 1943). Er durchlitt die Schulzeit, ist zweimal sitzengeblieben, und hat sich dann in den Studien der Theologie , Philosophie und Pädagogik (Trier, Innsbruck), Psychologie und Pathologie (Salzburg) davon erholt. Er war Lehrer an verschiedenen Schulen in Trier, Salzburg, Tamsweg und Saarburg, dann Psychotherapeut mit eigener Praxis, bis ihn der Frust packte und er in Tunesien eine T-Shirt-Fabrik baute. Vom Partner betrogen,  kehrte er zurück nach Deutschland und trat in die Gemeinschaft der Pallottiner  ein. Das war 1989 am Tag des Mauerfalls. Im Pallotti Haus Freising gründete er die Heilende Gemeinschaft, eine stationäre, therapeutische Einrichtung für Menschen in seelischer Not. Inzwischen hat er über 60 Bücher geschrieben und 4 Lied-Cassetten herausgebracht; er ist unter anderem auch als Kabarettist  unterwegs.