Der mütterliche Gott

Gott ist mütterlich

Das zweite Gebot der zehn Gebote legt fest, dass wir uns kein Bild von Gott machen sollen, denn Gott ist nicht abzubilden und unbegreiflich. Wir Menschen brauchen aber Vorstellungen, um unseren Gedanken und Gefühlen eine Richtung geben zu können. Wenn wir also von Gott reden, dann können wir das nur in Bildern tun, die bestimmte Aspekte Gottes beleuchten, aber nie alles über ihn aussagen können.

Im Alten Testament hören wir viel vom Herrn der Heerscharen, vom wahren König, vom Kämpfer, der für sein Volk in den Krieg zieht, vom Richter, vom Retter und Befreier aus der Knechtschaft und vom Hirten, Liebhaber und Ehemann. Das sind viele Vorstellungen aus der damaligen männlichen Welt. Die Lebensbereiche waren klar aufgeteilt. Die Männer übernahmen politische Verantwortung, verteidigten ihr Land, sorgten für die öffentliche Ordnung und bestimmten die religiöse Glaubenspraxis.
Die Frauen versorgten das Haus, erzogen die Kinder und waren für die internen Angelegenheiten der Familie verantwortlich. Weil sie auch im religiösen Bereich ihren Männern folgten und daher ihre Vorstellungen von Gott auch den gängigen Bildern anpassten, finden wir in den heiligen Schriften oft nur in Andeutungen die weibliche und mütterliche Seite Gottes. Aber es gibt sie. Es beginnt mit der Schöpfung. Dort steht im Text, dass der Geist Gottes über den Wassern der Urflut brütet. Leider verbirgt die Übersetzung in unsere Sprache, dass das hebräische Wort für Geist „Ruach“ eine weibliche Bedeutung hat. Die Schöpfung entsteht also aus dem männlichen und weiblichen Anteil. Im selben Schöpfungstext ist die ganze Schöpfung erst dann vollendet, als Gott den Menschen schuf. Er machte den Menschen als sein Abbild, als Mann und Frau erschuf er sie.

Die wichtigsten Attribute, die wir Gott zuschreiben, sind Gerechtigkeit und Barmherzigkeit. Und auch hier drückt sich das männliche und weibliche Prinzip aus. Das Wort Barmherzigkeit leitet sich im Hebräischen vom Wort rachamim her und bedeutet Mutterschoß. Es ist eine mütterliche Eigenschaft, ein Kind am Herzen zu tragen, es mit dem eigenen Körper zu nähren, zu gebären und dann mit allen Kräften und mit liebender Zuneigung zu versorgen. Ist die menschliche Mutter meist bereit, für ihr Kind alles zu geben bis hin zu ihrem eigenen Leben, so ist die Barmherzigkeit Gottes noch viel größer. Der Prophet Jesaia sagt das in diesem Bild: „Kann denn eine Frau ihren Säugling vergessen, ohne Erbarmen mit dem Kind ihres Leibes sein? Selbst wenn diese es vergessen würde: ich vergesse dich nicht“ (Jes 49,15). Der Prophet nimmt hier das Bild der tiefen Bindung zwischen Mutter und Kind und steigert es, denn noch tiefer ist die mütterliche Bindung Gottes an die Menschen. Ein Leitmotiv des Jesaiabuches ist die Vorstellung von Gott als Vater und Mutter. So lesen wir in Jes 1,2: „Ich habe Söhne großgezogen und emporgebracht, doch sie sind mir abtrünnig geworden“.

Hier wird die elterliche Fürsorge deutlich, die Mühe und Geduld, mit denen Eltern ihre Kinder erziehen, und es wird die Enttäuschung deutlich, dass die Kinder dies nicht zu schätzen wissen und Mutter und Vater vergessen. An anderer Stelle im Jesaiabuch lesen wir: „…ihr seid mir aufgeladen vom Mutterleib an, getragen vom Mutterschoß an! Bis ins Alter bin ich derselbe, bis zum grauen Haar werde ich schleppen. …ich werde schleppen, tragen und retten“ (Jes 46,3-4). Nichts kann Gott von seiner Liebe abbringen, egal, wie die Menschen sich verhalten. So wie auch eine Mutter ihre Kinder liebt, egal, wie ihr Lebensweg verläuft, ob sie scheitern oder Schuld auf sich laden.

Die deutlichste Aussage über den mütterlichen Gott findet sich in Jes 66,13: „Wie eine Mutter ihren Sohn tröstet, so tröste ich Euch“. Die Bindung von Mutter und Kind ist die intensivste Bindung, die ein Mensch haben kann, und sie löst sich auch nicht, wenn man erwachsen wird. Die Bilder vom mütterlichen Gott zeigen die positive Seite dieser vertrauten Bindung auf. Eine gute Mutter nährt, wärmt, beschützt, pflegt und erzieht ihr Kind. Sie ermöglicht ihm, Selbstvertrauen und Vertrauen in andere aufzubauen. Und sie schützt das Kind vor Gefahren. Sie verzeiht und tröstet.

Wir sind es gewohnt, Gott Vater zu nennen; in diesem Begriff ist sicher auch Mütterliches enthalten. Vielleicht würde es manchmal auch guttun, Gott ausdrücklich Mutter zu nennen.

 

Bild: eloi Adobe Stock

Über den Autor/ die Autorin

Gertrud Brem

Gertrud Brem ist Diplom-Theologin und Pastoralreferentin. Als Autorin schreibt sie für die Pallottinerzeitschrift „das zeichen“.