Brauchen wir heute noch Priester?
Am ersten Wochenende im November feiern wir Pallottiner ein schönes Fest. Mein Mitbruder Sebastian Wagner SAC wird in Vallendar zum Priester geweiht und feiert einen Tag später in Olpe seine erste Heilige Messe.
Heute noch Priester werden? Ist das unheimlich mutig oder ist es einfach nur irre, verrückt? Wozu brauchen wir heute noch Priester? Diese Frage stellen sich nicht nur diejenigen, die sich schwer tun mit dem Priesteramt oder überhaupt mit der Kirche. Auch der Synodale Weg zur Zukunft der katholischen Kirche in Deutschland will eine Diskussion darüber führen, ob die katholische Kirche Priester braucht. Anfang Oktober wurde deshalb über einen Grundlagentext mit dem Titel „Priesterliche Existenz heute“ beraten. Dabei geht es allerdings nicht – wie die Frage zunächst vermuten lässt – um die Forderung nach einer Abschaffung des Priesteramts, sondern angesichts von Priestermangel, Zölibatsverpflichtung und Missbrauch geht es eher um eine Selbstvegewisserung über die Gestalt und die Ausformung des priesterlichen Dienstes.
Wir erleben eine Zeitenwende
In der katholischen Kirche erleben wir eine Zeitenwende. Und aus anderen Zusammenhängen wissen wir: Zeitenwenden haben es in sich. Danach ist absolut nichts mehr wie vorher. Die Glaubwürdigkeit der Kirche ist durch den Missbrauchsskandal und die Vorgänge im Erzbistum Köln tief erschüttert. Viele haben das Vertrauen in die Kirche verloren, besonders aber das Vertrauen zu den Bischöfen und zu uns Priestern. Dabei sind wir bis ins Mark getroffen. Wir erleben aber gleichzeitig eine Freimütigkeit des Denkens und Redens, wie wir sie in der Kirche lange nicht gekannt haben. Es wird heftig gestritten, Vieles infrage gestellt, nach Reformen gerufen. Vor allem diejenigen, die vom Missbrauch und von sexueller Gewalt oder geistlichem Missbrauch betroffen sind, wollen zurecht gehört und gesehen werden. Es ist höchste Zeit, dass wir uns fragen, wie es sein kann, dass die Kirche so viel Leid hervorruft. Wir lernen vor allem, dass die Kirche immer wieder neu für die Menschen da sein und ihnen dienen muss. Kirche ist kein Selbstzweck; sie ist nicht für sich selber da.
Wir gehen einen synodalen Weg
Die meisten deutschen Bischöfe haben diese Zeitenwende ebenfalls erkannt. Deshalb haben sie sich im Frühjahr 2019 darauf verständigt, einen „Synodalen Weg“ in der Kirche in Deutschland zu gehen. In den vier Themenbereichen geht es um Macht und Gewaltenteilung, um das Priesterbild und die priesterlichen Lebensformen, um die Sexualmoral, um Ämter und Dienste für Frauen.
Die Macht einzelner oder bestimmter Gruppen dürfen das Leben und die Entwicklung der Vielen in unserer Kirche nicht beeinträchtigen oder behindern. Alle Positionen und Ämter brauchen Kontrolle und Begrenzung. Vor allem bei denjenigen, die Macht und Einfluss haben. Darum wird neu nachgedacht über das Weiheamt, vor allem über das Weihepriestertum. Dazu gehört auch die Frage, wofür es das Amt, wofür es den Priester in der Kirche braucht und welche Bedeutung wir als Diakone, Priester und Bischöfe haben. Und es geht um die Frage, wie diejenigen leben sollen, denen ein solches Amt anvertraut ist. Das sind wichtige Fragen, wie ich finde.
Wir sind Herausgerufene
Schauen wir uns einmal den Anfang des ersten Korintherbriefes an. Paulus beginnt seinen Brief mit folgenden Worten: „Paulus, durch Gottes Willen berufener Apostel Christi Jesu, und der Bruder Sosthenes an die Kirche Gottes, die in Korinth ist, – an die Geheiligten in Christus Jesus, berufen als Heilige mit allen, die den Namen Jesu Christi, unseres Herrn, überall anrufen, bei ihnen und bei uns. Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus“ (1 Kor 1,1-3). – Paulus nennt hier eigentlich nur Absender und Adressaten. Aber wie er das tut, das ist entscheidend. Mit nur ganz wenigen Attributen macht er wichtige theologische Aussagen.
Die Adressaten sind die Gemeindemitglieder von Korinth: eine eher kleine Gruppe von Leuten, zwischen hundert und zweihundert Christen vielleicht, maximal zwei Promille der gesamten Einwohnerschaft dieser griechischen Stadt. Aber Paulus grüßt sie nicht als verschwindend kleinen Haufen, sondern er spricht sie wörtlich an als „die Kirche Gottes, die in Korinth ist“. Im Griechischen und Lateinischen heißt das: die Ec-cle-sia, also die „Herausgerufene“. Das ist das besondere Kennzeichen der Briefempfänger: Sie sind herausgerufen, sie sind aufgerufen und herausgefordert zu einem besonderen Auftrag. Sie haben sich nicht selbst zur Kirche gemacht. Das würde dem Wort Ecclesia widersprechen. Sie sind gerufen – und nicht nur das: Sie sind geheiligt in Christus Jesus.
Wir müssen evangelisch und katholisch sein
Diese „Kirche vor Ort“ ist also keine sich selbst genügende Gesellschaft. Sie muss – nach Paulus – in zwei Richtungen geöffnet sein. Die erste Richtung führt zum Rufenden hin. Und die zweite zu allen, die auch den Namen Christi tragen. Und diese Kirche vor Ort – ob in Korinth oder wo auch immer – sie muss evangelisch sein und sie muss katholisch sein.
Ihr Grund ist gelegt im Evangelium Jesu Christi. Auf das muss sie immer wieder neu hören. Sie muss sich das Evangelium immer und immer wieder sagen lassen. Und sie muss es sich übersetzen lassen in die jeweils neue Zeit hinein. Sie ist aber auch offen auf das Ganze hin, wie das griechische Wort „katholisch“ sagt. Sie schließt sich nicht ein, sie ist keine geschlossene Gesellschaft, keine „Insel der Seligen“, sondern sie ist angewiesen auf die Verbindung, auf den fruchtbaren Dialog mit der Kirche weltweit.
Ihr kriegt das nicht alleine hin!
Paulus sieht seinen besonderen apostolischen Auftrag darin, immer wieder den Blick auf Christus zu lenken. „Ihr dürft euch nicht ständig um euch selbst drehen, ihr müsst euch immer wieder neu an Jesus Christus orientieren.“ – Das ist seine Botschaft, sein Auftrag.
Damit sind wir bei der Aufgabe des – ich schreibe jetzt mal – „besonderen Priestertums“ oder beim „Weiheamt“, wenn wir bei dieser etwas schwierigen Unterscheidung bleiben. Die Rolle des geweihten Priesters ist diejenige, der Gemeinde gegenüberzutreten, um ihr deutlich zu machen: Ihr kriegt das nicht alleine hin! Ihr müsst offen sein auf euren Ursprung hin, auf Christus hin, der euch herausruft und herausfordert! Und ihr müsst offen sein auf euer Ziel hin – nämlich: mit allen in Einheit zu leben.
Das ist die Aufgabe des Priesters heute. Der Gemeinde zu sagen: Ihr dürft euch nicht selbst genügen. Ihr seid angewiesen auf Jesus Christus. Ihr müsst euch immer wieder neu an Jesus Christus orientieren.
Allerdings: Dieses Rollenspiel von Priester und Gemeinde – das kann leicht falsch verstanden werden, und es wurde leider bis heute immer wieder missverstanden, vor allem auch von den geweihten Priestern selbst. Diese haben das nämlich nicht als Rollenspiel aufgefasst, sondern als Machtspiel. Das hat damit zu tun, dass es dem Priester nicht anders geht als der Gemeinde. Dass er nämlich in der ständigen Versuchung steht, sich selbst genügen zu wollen.
Es kann natürlich nicht sein, dass der Priester sein Dasein oder seine Aufgabe als das Puzzle-Teil versteht, das der Gemeinde zu ihrer Vollkommenheit noch fehlt. Im Sinne von: Ihr kriegt es alleine nicht hin – aber mit mir dann wohl schon! Das wäre eine Selbstüberhöhung und eine Selbstüberschätzung; eine Position, die dem Priester nicht zukommt!
Bleibt offen…
Wie alle Getauften sich sagen lassen müssen, dass sie nur in der ständigen Offenheit auf Christus hin ihrer Berufung gerecht werden, so muss sich auch jeder Priester sagen lassen, dass er seiner Weihe nur gerecht wird, wenn er sich nicht selbst, sondern Christus in den Mittelpunkt stellt.
Auf dieser Grundlage kann man gut und gerne Priester sein – auch heute. Ich bin es seit mehr als 25 Jahren und ich bin es auch heute noch sehr gerne. Ich wünsche meinem Mitbruder, dass er Freude hat an seinem Beruf – und als Priester in der pallottinischen Gemeinschaft glücklich wird.
Bild: Pixabay
Quellen: Einige Anregungen zu diesem Beitrag verdankt Pater Modenbach Herrn Joachim Koffler aus seinem Buch: Wovon das Herz voll ist, Herder 2014, S. 65 f.
Über den Autor/ die Autorin
Pater Siegfried Modenbach SAC
- Jahrgang 1962
- Studium der Theologie in Fulda und Rom
- Studium der Sozialpädagogik in Fulda
- 1990 Noviziat der Pallottiner
- 1992-2002 Leiter des Jugendhofes in Olpe
- 1995 Priesterweihe
- 2002-2007 Regens in Vallendar
- 2007-2019 Leiter des Katholischen Forum in Dortmund
- seit 2010 Vorstandsmitglied der Aidshilfe Dortmund
- Seit 2019 Leitung des Geistlichen Zentrums Kohlhagen
Zum Stichwort ‚verrückt‘:
Ver-rücktes Christ-Sein
Ich versuche als gläubige Christin, mich so ‚normal’ wie möglich in der Welt zu bewegen, obwohl: ‚normal’ ist am christlichen Glauben wahrlich nichts, ist er doch vom Ansatz her bereits ver-rückt. Gott mutet uns diese Ver-rücktheit zu: Der Logos wird Fleisch… springt in den Staub, wird Mensch, der zerbricht… und der Staub leuchtet. Die Konturen ver-rücken, schmelzen ineinander, verwandeln sich; Welt, Menschen, Dinge sind, was und wie sie sind und sind doch auch wieder ganz anders.
Was da armselig vor uns liegt, wird geheiligt.
Der Obdachlose stinkt – und ist gleichzeitig ein erschütterndes Bild des Menschensohnes.
Die Welt um uns herum, wie grell und trivial, wie gemein, brutal, mächtig, zynisch, Angst machend sie sich auch zeigen mag: sie ist unsere einzige Möglichkeit, Gott zu erfahren, Ihn zu erkennen und lieben zu lernen.
Ebenso ist die Welt auch für Gott die einzige Möglichkeit, sich uns zu erkennen zu geben, uns Seine Liebe zu offenbaren, von uns geliebt zu werden.
Gott hat diese Welt und uns gewollt. Das in der Welt-Sein des Christen ist also wichtig und bleibt doch eine Gratwanderung:
Wir sollen uns klug und tatkräftig in der Welt einbringen – und sie gleichzeitig überwinden.
Wir sollen uns selber nicht so wichtig nehmen – und gleichzeitig so denken, fühlen und handeln, als würde alles von unserem Einsatz abhängen.
Wir gleichen dem Vieh, das verstummt – und sind gleichzeitig geliebte Kinder Gottes.
Wir sollen die Dinge nüchtern betrachten, mit beiden Beinen fest auf dem Boden stehen – und gleichzeitig mit brennendem Herzen und geistesklarer Trunkenheit Seine Liebe in die Welt tragen…
Christ-Sein: ein ver-rückter, Mut einfordernder Drahtseilakt, manchmal in schwindelnder Höhe, zum Glück immer mit Netz: dem liebevoll ausgespannten Netz Seiner Barmherzigkeit.
Maria Reinecke,
Berlin
Guter Beitrag und eine schöne Ermutigung zum Priestersein.