Religion als Integrationshindernis?

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Warum das Problem des öffentlichen Raums nicht Religion heißt:

Die Verbannung von Religion aus dem öffentlichen Raum stellt religiöse Menschen vor eine fatale Wahl: politische Integration oder religiöse Integrität. Patrick Zoll regt zu einem Umdenken an, dass das größte Integrationshindernis nicht auf Seiten der Religion, sondern auf Seiten der liberalen politischen Tradition zu verorten ist. Sein Fazit: Das europäische Integrationsprojekt kann gelingen, wenn wir bereit sind, mehr Religion zu wagen.

Wie schaffen wir das? Im vergangenen Jahr hat Deutschland fast 1 Millionen Flüchtlinge aufgenommen. Sehr viele dieser Menschen kommen aus Kulturen, die uns fremd sind. Was jedoch am meisten Unbehagen auszulösen scheint, ist die religiöse Identität, das religiöse Selbstverständnis dieser Menschen. Denn für sie ist es undenkbar, ihre Religion als rein private, unpolitische Angelegenheit zu betrachten. Dies zeigt sich z.B. im Bedürfnis, den Sittlichkeitsvorstellungen ihrer Religion durch Kleidervorschriften auch im öffentlichen Raum nachzukommen.

Können derartige religiöse Identitäten aber in die politische Tradition westlicher Demokratien integriert werden? Hier entsteht eine gesellschaftliche Spannung. Denn liberale Demokratien zeichnen sich durch die Anerkennung einer weltanschaulichen und religiösen Pluralität aus, aufgrund derer es keine deckungsgleiche Umsetzung einer religiösen Vorstellung von einem guten Leben in der Politik geben kann.

Es lassen sich zwei klassische Antworten in unserer politischen Tradition identifizieren, um diese Spannung aufzulösen. Beiden gemeinsam ist, dass sie ein derartiges religiöses Selbstverständnis als Integrationshindernis begreifen. Sie unterscheiden sich darin, dass sie im Namen der Neutralität entweder die Religion generell aus dem öffentlichen Raum verbannen, oder aber ihre Einflussmöglichkeit auf den öffentlichen Raum der Gründe zu unterbinden versuchen.

Credo einer strikten Trennung zwischen Religion und Politik

Charakteristisch für den ersten Ansatz zur Spannungsreduktion ist das Credo, dass es eine strikte Trennung zwischen Religion und Politik braucht und Religion als solche deshalb aus dem öffentlichen Raum verbannt werden muss. Dieses Modell wurde in den vergangenen Monaten in Frankreich, dann aber auch in Deutschland anhand des Beispiels der „Vollverschleierung“ erneut erhitzt durchdiskutiert.

Als Beispiel für ein klassisches zweites Modell der Spannungsreduktion kann die sogenannte „Beschneidungsdebatte“ aus dem Jahr 2012 angeführt werden. Sie wurde von einem Urteil des Kölner Landgerichts ausgelöst, welches eine religiös begründete Beschneidung von Kleinkindern verbot. Hier soll eine Spannungsreduktion erreicht werden, indem man eine Neutralität für den öffentlichen Raum der Gründe fordert.

Derartige Neutralitätsforderungen haben eine lange Tradition in der Politischen Philosophie und sind methodologisch im 20. Jahrhundert am wirkmächtigsten von John Rawls formuliert worden. Gemäß ihm können unter den Bedingungen eines vernünftigen Pluralismus Menschen nur dann zustimmungsfähige Prinzipien und Grundsätze für ihr gesellschaftliches Zusammenleben finden, wenn sie bereit sind, sich einen „Schleier des Nicht-Wissens“ überzuwerfen. Dieser ermögliche es ihnen, sich von ihrer konkreten Identität zu distanzieren, um von einem unparteiischen Standpunkt aus entsprechende Überlegungen anstellen zu können. Die Trennung von Religion und Politik wird somit auf der Ebene der Rechtfertigung von Politik vollzogen. Man könnte dies auch als Forderung nach einer Art „epistemischen Vollverschleierung“ für den öffentlichen Raum der Gründe verstehen.

Eine fatale Wahl: politische Integration oder religiöse Integrität?

Wird so aber die Integration von Menschen gelingen, die tiefsitzende religiöse Überzeugungen haben, die im Einklang mit diesen Überzeugungen leben wollen und somit auch ihr gesellschaftliches Umfeld in Entsprechung zu diesen Wertvorstellungen politisch gestalten wollen? Es ist zu bezweifeln, dass diese klassischen Antworten unserer politischen Tradition zur Lösung des adressierten Problems konstruktiv beitragen. Vielmehr scheinen sie die Spannung zwischen Religion und Politik nicht zu reduzieren, sondern in einer kontraproduktiven Weise zu ihrer Verstärkung beizutragen.

Was nicht erstaunen sollte, denn beiden Modellen ist gemeinsam, dass sie religiöse Menschen vor eine fatale Wahl stellen: politische Integration oder religiöse Integrität. Die Entwicklungen in Frankreich – in Bezug auf muslimische Gläubige – und in Amerika – in Bezug auf christliche Gemeinschaften – machen aber ersichtlich, dass diese Wahl leider sehr oft zu Ungunsten der liberalen Demokratie ausfällt. Eine solche Zuspitzung führt nicht zu Integration und zur Identifikation mit unserer politischen Tradition, sondern vielmehr zu einer Isolierung, Radikalisierung und Entfremdung religiöser Gemeinschaften von demokratischen Aushandlungsprozessen. Die Spannung von Religion und Politik wird nicht reduziert, sondern potenziert.

Die Alternative setzt beim Umdenken an, dass das größte Integrationshindernis nicht auf Seiten der Religion, sondern auf Seiten unserer liberalen politischen Tradition zu verorten ist.

Wie könnte nun eine Alternative aussehen? Sie setzt bei einem Umdenken an, dass das größte Integrationshindernis nicht auf Seiten der Religion verortet, sondern auf Seiten unserer liberalen politischen Tradition. Nicht die Religion mit ihrem politischen Gestaltungsanspruch ist das Problem, sondern unser erstarrtes politisches Selbstverständnis, welches Neutralität für den öffentlichen Raum (der Gründe) für unerlässlich hält, um Pluralität zu bewahren.

Dass dies auch ohne Neutralität gelingen kann, zeigen jüngere Weiterentwicklungen innerhalb der liberalen Politischen Philosophie, die unter den Stichworten „Perfektionistischer Liberalismus“ und „Konvergenzkonzeptionen öffentlicher Rechtfertigung“ diskutiert werden. Die normative Grundidee dieser Ansätze ist, dass staatliches Handeln nur dann Legitimität beanspruchen kann, wenn es öffentlich gerechtfertigt ist, d.h. jeder Bürgerin und jedem Bürger ein Grund genannt werden kann, warum sie in einen Eingriff des Staates in ihre Freiheit einwilligen sollten.

 Grundlegend für den gesellschaftlichen Zusammenhalt ist die „Du-Perspektive“.

Im Unterschied zu den bisherigen liberalen Theorien öffentlicher Rechtfertigung behaupten Perfektionistische Liberale aber, dass für öffentliche Rechtfertigung kein Konsens an Gründen erforderlich ist, sondern lediglich eine Konvergenz. Gemeint ist damit, dass es eine Übereinstimmung darüber braucht, dass eine politische Maßnahme gerechtfertigt ist, nicht aber, warum sie gerechtfertigt ist. Es braucht also keine „Wir-Perspektive“, keine gemeinsamen evaluativen Standards, mittels derer Überlegungen von anderen als Gründe akzeptiert werden können.

Grundlegend für den gesellschaftlichen Zusammenhalt ist vielmehr die „Du-Perspektive“, d.h. den jeweiligen Diskurspartnern sind Gründe zu nennen, die diese von ihrem Standpunkt aus akzeptieren können. Öffentliche Rechtfertigung geschieht somit durch ein Hineinversetzen in die Perspektive der konkreten Anderen und ein Argumentieren von ihrem Standpunkt aus. Es ist die Entkoppelung öffentlicher Rechtfertigung von einer Wir-Perspektive, die Spielräume für religiöse Gründe eröffnet.

Und dies geschieht ohne die Gefahr einer religiös begründeten Aufoktroyierung staatlicher Macht, weil öffentliche Rechtfertigung unhintergehbar auf die Du-Perspektive verpflichtet ist. Staatliches Handeln kann nicht als öffentlich gerechtfertigt gelten, wenn es nur von (m)einem (religiösen) Standpunkt aus gerechtfertigt werden kann.

Es braucht einen fairen Ausgleich zwischen „Integrations-“ und „Integritätskosten“

Integration kann gemäß diesem dialogischen Ansatz öffentlicher Rechtfertigung somit gelingen, wenn es einen fairen Ausgleich zwischen „Integrations-“ und „Integritätskosten“ gibt. Auf der einen Seite sind nur diejenigen religiösen Identitäten integrierbar, die bereit sind, bestimmte „Integritätskosten“ zu übernehmen. Diese resultieren aus der Akzeptanz der Tatsache, dass die Gründe, die sich aus der eigenen religiösen Perspektive ableiten, in einer pluralen Gesellschaft niemals allein staatliches Handeln rechtfertigen können.

Konkret bedeutet dies, dass religiöse Akteure das Spiel des „Gebens und Verlangens von Gründen“ im politischen Raum akzeptieren müssen. Sie müssen akzeptieren (lernen), dass ihre religiösen Gründe in einer weltanschaulich und religiös pluralen Gesellschaft niemals allein den Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt öffentlich rechtfertigen können. Sie müssen deshalb bereit sein nicht-religiösen oder andersgläubigen Menschen Gründe für die von ihnen präferierte politische Maßnahme zu nennen, die diese von ihrem Standpunkt aus akzeptieren können. Genau dies erfordert die Einnahme der Du-Perspektive.

Integration wird nur mit mehr Vertrauen in religiöse Dialogpartner gelingen.

Auf der anderen Seite wird das Werben für die Übernahme dieser „Integritätskosten“ aber nur überzeugend sein, wenn die demokratische Öffentlichkeit auch bereit ist, entsprechende „Integrationskosten“ zu übernehmen. Diese entstehen durch die Aufgabe der Idee, dass es einer strikten Neutralität für den öffentlichen Raum der Gründe bedarf, die sich aus der Einnahme einer unparteiischen Wir-Perspektive ergibt. Integration wird also nur mit mehr Vertrauen in den religiösen Dialogpartner gelingen.

Religiöse Gründe dürfen demnach eine Rolle spielen im Prozess der öffentlichen Rechtfertigung staatlicher Zwangsgewalt, weil mit der Aufgabe der Wir-Perspektive eine Distanzierung von den eigenen partikulären religiösen Überzeugungen nicht mehr erforderlich ist. Dies vermindert in erheblichem Maße die Integritätskosten für Bürgerinnen mit tiefsitzenden religiösen Überzeugungen. Denn es ist ihnen erlaubt, dass sie auf diese in der öffentlichen Rechtfertigung politischer Maßnahmen verweisen können. Anders als in den klassischen Verhältnisbestimmungen von Religion und Politik wird Religion also nicht grundsätzlich entpolitisiert. Die Spannung wird nicht gänzlich aufgehoben, aber sie dürfte effektiv reduziert werden. Man könnte also sagen, dass wir es schaffen können, wenn wir bereit sind, mehr Religion zu wagen.

((Der Artikel erschien im theologischen Feulleton feinschwarz. 19.10.16. Bilder: pixabaay))

Über den Autor/ die Autorin

Pater Dr. Patrick Zoll SJ

Pater Dr. Patrick Zoll SJ (geb. 1977 in Gummersbach) trat 1998 in den Jesuitenorden ein und studierte Theologie und Philosophie. Heute ist er Lehrbeauftragter für Politische Philosophie und Sozialethik an der Hochschule für Philosophie in München. Weitere Informationen auf der Website der Jesuiten.