Dr. Roland Weis Jamaikanische Dialektik

Jamaikanische Dialektik

Im Moment ist es unmöglich in der allgemeinen Presseberichterstattung um die gerade gescheiterten sog. Jamaika-Verhandlungen umhin zu kommen. Wenn man hier den Fokus etwas weitet, also tagesaktuelle Entwicklungen in einen größeren (zeitlichen) Zusammenhang stellt und bereit ist, ohne parteipolitische Brille die Situation zu besehen, drängt sich die Erkenntnis auf, dass das gerade gegebene Schauspiel schlicht auch eine Konsequenz einer komplexen Gesellschaft – zumindest ein weit komplexeren als bei Einführung des Grundgesetzes – darstellt.

So fällt bei der Betrachtung der momentanen (nicht-mehr-)Jamaika Verhandlungen auf, dass bei jeder der an einer möglichen Regierungsfindung Beteiligten – und auch bei der selbstgewählt nicht beteiligten – Parteien im Wesentlichen jeweils ein Grundvorwurf im Raum steht. Bei näherer Betrachtung stellt man jedoch fest, dass – wenn die jeweilige Partei genau das Gegenteil des ihr gemachten Vorwurfs täte – ihr mutmaßlich ein anderer Vorwurf gemacht würde, der vielleicht sogar noch schwerer wöge.

Die gegenüber den beteiligten bzw. der freiwillig nicht-beteiligten Parteien im Raum stehenden Vorwürfe lauten (in Reihenfolge des Wahlergebnisses) etwas holzschnittartig zusammengefasst:

CDU:              zu viel Nachgeben, zu wenig Führung, zu wenig eigenes Profil

SPD:              Verweigerung der Mitwirkung

FDP:               starrsinniges Festhalten, zu wenig Kompromissbereitschaft

Grüne:           zu viel Nachgeben, zu wenig Prinzipientreue

CSU:              starrsinniges Festhalten, zu wenig Kompromissbereitschaft

Hätten die Parteien jeweils genau die den Vorwürfen begegnende Positionen eingenommen, bestünde die Gefahr, dass man ihnen vorwürfe:

CDU:              zu starr, zu wenig bereit als größte Kraft auf die Bedürfnisse der kleineren Parteien einzugehen

SPD:              zu sehr am Machterhalt und damit verbundene Positionen, Privilegien interessiert, zu wenig prinzipientreu

FDP:              zu sehr an Machtübernahme und damit verbundenen Positionen, Privilegien interessiert, zu wenig prinzipientreu, „Umfaller“

Grüne:           zu starr, zu sehr auf Partikularinteressen zu Lasten des großen Ganzen bedacht

CSU:              siehe SPD bzw. FDP, zu wenig eigenes Profil ggü. CDU

Somit handelte es sich bei allen Parteien dem ersten Anschein nach um eine Dilemma-Situation, aus welcher kein Ausweg führt. Da es vorliegend jedoch um einen politischen Meinungs- (hier: Regierungs-) Bildungsprozess geht, ist die Lage doch nicht dilemmatisch, da Deutschland vermutlich – wie auch immer – auch weiterhin eine Regierung haben dürfte.

Als Jurist erinnert dies stark an die Rechtsfigur des Rechtmäßigen Alternativverhaltens: Ein Schaden wäre – eine rechtswidrige Handlung vorausgesetzt – auch dann eingetreten, wenn sich der/die Beteiligten rechtmäßig verhalten hätten. Wobei unter Schaden in diesem Bild der potenzielle Verlust von Vertrauen in die politischen Entscheidungsfindungsmechanismen zu verstehen wäre.

Philosophisch angehaucht erinnert die zugrundeliegende Situation geradezu an einen Erkenntnisprozess in Form Hegelianischer Dialektik, wonach jeweils die Betrachtung des Gegenteils und eine Inbezugsetzung dessen zu einer weiteren (politischen) Entwicklung führt.

Letztlich erbringt also gerade der schwierige Findungsprozess erstens den Beweis, dass es sich bei dem Versuch der Bewältigung verfassungsrechtlicher Vorgaben um eine lebendige Demokratie handelt und zweitens birgt dies gar die Möglichkeit, dass aus dieser verzwickten Lage neue Wege gefunden werden, die den komplexen Rahmenbedingungen in jetziger Zeit gerecht werden. Das – manchmal auch anstrengende – Ringen um Mehrheiten wohnt nun mal dem Prinzip der parlamentarischen Demokratie inne.

Um es mit Hegel zu sagen: Diese Auseinandersetzung ist das treibende Moment des Vernünftigen innerhalb des Verstandesdenkens.

Mithin sollte bei aller mitunter berechtigter Kritik an den politisch Handelnden diesen zu Gute gehalten werden, dass sie sich letztlich für einen Weg entscheiden müssen und immer der Gefahr ausgesetzt sind, dass diese Entscheidung ihnen zum Vorwurf gereichen kann – der andere Weg aber genauso.

Überdies ist es ja gerade nicht soweit, dass der grundsätzliche Prozess der Mehrheitsfindung in Frage gestellt werden müsste. Innerhalb dessen müssen jedoch im Wege dialektischer Erkenntnisgewinnung gegebenenfalls neue Wege beschritten werden.

Über den Autor/ die Autorin

Dr. Roland Weis

Dr. Roland Weis (geb. 1977 in Friedberg) hat in Augsburg Rechtswissenschaften studiert und dort auch promoviert. Er ist Justitiar der Pallottiner – Körperschaft des öffentlichen Rechts. Weitere Informationen auf der Website der Pallottiner.