Radikal Christlich?

„Du sollst nicht töten“, verlangt ein Gebot des Alten Testaments. Jesu Auslegung in der Bergpredigt geht weit darüber hinaus: „Jeder, der seinem Bruder auch nur zürnt, soll dem Gericht verfallen sein. Wer aber zu seinem Bruder sagt: Du Dummkopf! Soll dem Spruch des Hohen Rates verfallen sein; wer aber zu ihm sagt: Du gottloser Narr! Soll dem Feuer der Hölle verfallen sein.“ Das ist eine atemberaubende Radikalisierung des Gebotes. Im AT steht „Du sollst nicht die Ehe brechen.“ Jesu Auslegung lautet: „Wer eine Frau auch nur lüstern ansieht, hat in seinem Herzen schon Ehebruch mit ihr begangen. Wenn dich dein rechtes Auge zum Bösen verführt, dann reiß es aus und wirf es weg. Wenn deine rechte Hand zum Bösen verführt, dann hau sie ab und wirf sie weg.“ Die Vergeltungsformel im Buch Exodus lautet: „Auge für Auge und Zahn für Zahn.“ Die Antwort Jesu: Keine Rache. „Wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halte ihm auch die andere hin. Wenn einer vor Gericht dir das Hemd wegnehmen will, dann lass ihm auch den Mantel. Wer dich bittet, dem gib.“ Und dann noch das Thema Liebe und Hass. Das Gebot der Nächstenliebe findet sich im Buch Levitikus. Das „Hasse deinen Feind“ gehörte zum Vokabular der Zeloten zu der Zeit Jesu. Die Antwort Jesu: „Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen.“

Liebe Schwestern und Brüder, wie geht es ihnen, wenn die Bergpredigt in derart kompakter Form auf sie niederprasselt? Fühlen sie sich nicht erschlagen? Hat Jesus die Latte nicht radikal hoch gelegt? Das empfinden nicht nur wir so.

Als Kirche und Reich sich im Mittelalter verschwisterten, setzten theologische Milderungsbestrebungen ein, die das Eidverbot, die Feindesliebe und den Gewaltverzicht relativierten und den Verhältnissen anpassten. Gegen alle Bestrebungen, die Bergpredigt zu entschärfen, wendeten sich radikal-christliche Bewegungen. Die Orden, wie Franziskaner und Dominikaner, und die Heiligen. Es gab aber auch solche, die mit der Bergpredigt gegen die Kirche opponierten und dafür von der Inquisition blutig verfolgt wurden. Man nannte sie Ketzer: Waldenser, Katharer, Täufer.  In der klassischen katholischen Theologie wurde die Bergpredigt soziologisch relativiert. Demnach gelten Ihre Forderungen nicht für alle Christen. Sie werden als „evangelische Räte“ auf den Kreis von Menschen beschränkt, die sich zur besonderen Nachfolge Jesu berufen wissen.

Entspricht diese Einschränkung der Intention Jesu? Er ruft alle in seine Nachfolge, wenn auch auf unterschiedlichen Wegen. Er kennt keine Christen erster und zweiter Klasse. Alle müssen sich dem Anspruch der Bergpredigt stellen, auch wenn sie immer wieder hinter deren Anforderungen zurück bleiben. Denn: „Christ ist man nicht, Christ wird man stets.“ (Sören Kierkegaard)

((Limburg 12.2.2017; Bild: pixabay))

Über den Autor/ die Autorin

Karl Heinen SAC

Geboren 1935. Mit 14 Jahren besuchte er das Gymnasium der Pallottiner in Limburg. Es folgten Noviziat und Profess; später die Priesterweihe. Sein Studium der Theologie und Bibelwissenschaft absolvierte er an der Gregoriana in Rom. Nach der Promotion 1968 wurde Professor an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Vallendar im Fach Exegese des Alten Testaments. Nach der Emeritierung 2004 als Generalprokurator der Pallottiner in Rom tätig; seit 2011 freier Mitarbeiter bei der pallottinischen Zeitschrift „das zeichen“.