Hat die Kirche den Anschluss verpasst?
Wer mit dem Zug fährt, macht nicht selten die Erfahrung, dass sein Zug hinter der angegeben Zeit zurückbleibt. Er hofft zwar, dass der Zug die verlorene Zeit noch aufholt, das aber glückt nicht immer. Das kann dazu führen, dass der Reisende den Anschluss verpasst.
Ähnlich geht es uns in der Kirche. Die Kommunikation der Kirche wird seit Jahrzehnten immer schwieriger, sowohl innerkirchlich als auch auf ihre gesellschaftliche Umwelt bezogen. Bereits das Zweite Vatikanische Konzil nahm die Situation von Kirche und Welt in den Blick und gab eine neue Orientierung. Einen Wandel hat das nicht gebracht. Der gesellschaftliche Wandel und die Erosionsprozesse im Bereich des Katholischen haben sich eher verschärft. Und wir wissen nicht so recht, wie wir darauf zu reagieren haben. Zuerst sprachen wir vom „Ende der Volkskirche“, dann von „Kirche mit volkskirchlichen Elementen“. Heute ist die Rede von „Kirche im Volk“. Wieviel Anpassung an die moderne Welt ist möglich, und wie viel Abgrenzung ist nötig, um die katholische Identität im Wandel der Zeit glaubwürdig durchzuhalten? Was muss geschehen, dass sie wieder ihren gewinnenden Kick erhält, den sie einmal hatte?
Das Zweite Vatikanum ermutigt uns, neue Anschlüsse innerhalb der Kirche und in der modernen Gesellschaft zu suchen. In den sozial-karitativen Bereichen (Stichwort „Flüchtlingskrise“) ist das weithin gelungen, was auch von Politikern anerkannt wird. In unseren theologischen Kernbereichen aber sind wir über die Proklamation eines hierfür nötigen „guten Willens“ wenig hinausgekommen. So Franz-Josef Overbeck, Bischof von Essen. Und er fährt fort: „Wir befinden uns in einer Situation, in der die Gestalt der Kirche und die ihr entsprechenden Kommunikation die Möglichkeit eines sinnerfüllenden Glaubens für viele nicht mehr attraktiv macht, sondern häufig reduziert.“
Ist die verlorene Zeit noch aufzuholen? Unsere gesellschaftliche Gegenwart ist von unterschiedlichen Erfahrungen geprägt, wie ein herbstlich bunter Baum, bei dem ein einfaches Schwarz oder Weiß nicht weiterhilft. Wenn diese komplexe Welt Gottes gute Schöpfung ist, dann ist sie der Schauplatz unserer persönlichen und gemeinschaftlichen Bewährung im Glauben. Deshalb kann die oft schwierige Welt aus Glaubensgründen theologisch nicht als schlecht und unbedeutend abgetan werden. Sie muss vielmehr, wie es das Konzil sagt, stetig neu durchsäuert werden. Unsere Kirche ist Teil dieser komplizierten Welt. Deshalb muss sie wie diese ständig durchsäuert werden vom Geist Jesu Christi. So tritt das Reich Gottes zu Tage ohne Rückgriff auf zeitbedingte Vorstellungen und Feste.
Es genügt nicht, dass die Kirche ihre moralischen Vorstellungen ständig nur wiederholt und dabei immer weniger Gehör findet. Es führt kein Weg daran vorbei, gesellschaftliche Vorstellungen lernend aufzugreifen, auch wenn sie diesen nicht zustimmen kann. Das Für und Wider gilt es abzuwägen und so eine neue Resonanz und Bedeutsamkeit bei den Menschen zu finden.
Papst Franziskus hat in seinen nachsynodalen Schreiben bezüglich der Zulassung Geschiedener und Wiederverheirateter zur Kommunion die Ermutigung „zu einer verantwortungsvollen persönlichen und pastoralen Verantwortung“ ausgesprochen. Die moralischen Gesetze dürften nicht wie Felsbrocken auf den Lebensweg der Menschen geworfen werden. Es müsse geprüft werden, ob im Einzelfall das „Entweder-oder“ durch ein „Sowohl-als auch“ überstiegen, transzendiert werden könne, wenn die Unterscheidung der Geister dies zulässt. Das wäre ein erlösendes Übersteigen der unerträglichen Spannungen, das gleichzeitig zu bezeugen wie zu begründen ist. Wo das geschieht, „da schreitet Christus durch die Zeit in seiner Kirche Pilgerkleid“. „Es geht in allem nämlich um den gemeinsamen und wechselseitig bezeugten Glauben an Gottes Herrlichkeit in unserer irdischen Wirklichkeit.“(F.-J. Overbeck) Das ist es, was wir am Fest Christ König feiern. Das Aufleuchten Gottes auf dem Antlitz Jesu Christi in einer Welt ohne Gott. Vielleicht sagt einer: Ist Christ König nicht mehr? Meine Antwort: Nicht weniger. Amen
((Limburg, 20.10.2016, Bild: pixabay))
Über den Autor/ die Autorin
Karl Heinen SAC
Geboren 1935. Mit 14 Jahren besuchte er das Gymnasium der Pallottiner in Limburg. Es folgten Noviziat und Profess; später die Priesterweihe. Sein Studium der Theologie und Bibelwissenschaft absolvierte er an der Gregoriana in Rom. Nach der Promotion 1968 wurde Professor an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Vallendar im Fach Exegese des Alten Testaments. Nach der Emeritierung 2004 als Generalprokurator der Pallottiner in Rom tätig; seit 2011 freier Mitarbeiter bei der pallottinischen Zeitschrift „das zeichen“.
„Wen interessiert, ob die Kirche den Anschluss verpasst hat?“ ´Die Antwort des Briefschreibers lautet: Das sollte die plurale Gesellschaft in Europa interessieren. Sie soll der Kirche gewissermaßen auf die Sprünge helfen. Demnach wären gruppendynamische Übungen auf internationaler Ebene angezeigt, die der Kirche eine neue Bedeutung gäben, wenigstens nach außen. Wie aber gehen wir damit um, dass die innerkirchliche Kommunikation immer schwieriger wird? Der theologische Kern unseres Glaubens muss bei bleibender Identität neu formuliert werden, damit Menschen sich (wieder) dafür interessieren. Papst Franziskus hat das in „Amoris laetitia“ gewagt. Und schon gerät er massiv unter Beschuss.
22.11.2016
P. Karl Heinen SAC
„Ich träume von einer missionarischen Entscheidung, die fähig ist, alles zu verwandeln, damit die Gewohnheiten, die Stile, die Zeitpläne, der Sprachgebrauch und jede kirchliche Struktur ein Kanal werden, der mehr der Evangelisierung der heutigen Welt als der Selbstbewahrung dient.“ (Apostolisches Schreiben EVANGELII GAUDIUM des heiligen Vaters Papst Franziskus, 25.)
„Mir ist eine „verbeulte“ Kirche, die verletzt und beschmutzt ist, weil sie auf die Straßen hinausgegangen ist, lieber, als eine Kirche, die aufgrund ihrer Verschlossenheit und ihrer Bequemlichkeit, sich an die eigenen Sicherheiten zu klammern, krank ist. Ich will keine Kirche, die darum besorgt ist, der Mittelpunkt zu sein, und schließlich in einer Anhäufung von fixen Ideen und Streitigkeiten verstrickt ist.“ (eben da, 49.)
„Diese Wirtschaft tötet. Es ist unglaublich, dass es kein Aufsehen erregt, wenn ein alter Mann, der gezwungen ist, auf der Straße zu leben, erfriert, während eine Baisse um zwei Punkte in der Börse Schlagzeilen macht.“ (eben da, 53.)
Nein, keine „Gruppendynamischen Übungen“. Die Kirche muss sich jetzt reformieren, wir Gläubigen müssen aufbrechen. Das hat Papst Franziskus bereits in Evangelii Gaudium gesagt. Und nicht nur die Kirche muss sich reformieren, auch die Gesellschaft, wir Bürger müssen aufbrechen. Es gibt kein innen und außen. Dafür müsste Papst Franziskus von allen, die etwas zu Verlieren haben, eigentlich unter Beschuss geraten.
Im Gesprächsprozess „Im Heute glauben“, wurde eine Vision für die Kirche gesucht und gefunden. Hier gibt es auch Ideen für eine neue Orientierung, Sprachfähigkeit und echte Partizipation. Und nicht im Familien-Klein-Klein von „Amoris laetitia“. Finde ich zumindest!
Quellen:
Evangelii Gaudium https://w2.vatican.va/content/francesco/de/apost_exhortations/documents/papa-francesco_esortazione-ap_20131124_evangelii-gaudium.html#Eine_unaufschiebbare_kirchliche_Erneuerung
Abschlussbericht Im Heute Glauben http://www.dbk.de/themen/gespraechsprozess/
Amoris Laetitia https://w2.vatican.va/content/francesco/de/apost_exhortations/documents/papa-francesco_esortazione-ap_20160319_amoris-laetitia.html
Hinsichtlich des Bedeutungsverlustes der Kirchen im pluralen Europa ist die Frage: Wen interessiert das, ob die Kirche den Anschluss verpasst hat oder nicht?
Einfacher ist die Frage zu beantworten, wen es interessieren sollte: die plurale Gesellschaft in Europa. Nur wenn Christen, gemeinsam mit anderen Religionen und Konfessionen, mit Atheisten und Freidenkern um ein gemeinsames Wertefundament streiten und für gemeinsame europäische Werte eintreten, dann haben Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit beziehungsweise Menschenwürde, Gerechtigkeit, soziale Verantwortung und Frieden eine Chance.
In einer synodalen Kirche darf es Spannungen zwischen dem Einzelnen und der kirchlichen Gemeinschaft bzw. der Gesellschaft geben. Wir müssen lernen mit Differenzen und Scheitern zu leben. Eine Reform von Kirche und Welt wird es aber nur im herrschaftsfreien Dialog geben, mit gegenseitigem Respekt voreinander, auf Augenhöhe. Vielleicht kommen wir so von einer „Kultur der Folgenlosigkeit“ (Alois Glück), zu einer neuen Kultur des Miteinanders in Europa und der Welt.