
Der Held, der nicht fragte
Parzival, der Held aus dem mittelalterlichen Versepos, wollte als tugendhafter Ritter glänzen. Es fehlte ihm nicht an Mut und Kühnheit, um die Kämpfe seines abenteuerlichen Lebens zu bestehen. In einem entscheidenden Augenblick aber versagte er: Ihm fehlte der Mut, einem Leidenden die alles entscheidende Frage zu stellen. Ein Lehrstück auch für heute.
Es gibt Aussagen, irgendwo gelesen oder gehört, die ein Leben begleiten können. Die für menschliche Grunderfahrungen und Grundfragen stehen. Diese finden sich auch in den großen Erzählungen der Weltliteratur. Eine Schlüsselszene, wenn es um das Fragen und das Nicht-Fragen geht, das im Letzten über Leben und Tod entscheidet, findet sich im Parzival-Epos von Wolfram von Eschenbach, entstanden zwischen 1203 und 1210. Diese Dichtung führt hinein in die mittelalterlich-höfische Gedankenwelt, in der der Mensch, herausgefordert in den Abenteuern des Lebens, gerufen ist, gemäß der „ritterlichen Tugenden“ zu handeln – der Kühnheit, der wahren Treue in der Minne, des Mitleids und Erbarmens. Tugenden, die auch das Christentum kennt.
Der junge Ritter Parzival gelangt eines Abends an einen See, wo er einem Fischer begegnet, und ihn bittet, ihm zu sagen, wo er für die Nacht eine Unterkunft fände. Der Fischer antwortet Parzival voller Trauer und weist ihm den Weg zu einer Burg, wo Parzival von dem dort lebenden Hofstaat freundlich aufgenommen wird, wo ihm alle Ehre erwiesen wird. Und doch stimmt etwas nicht. Das grüne Gras im Hof ist nicht zertrampelt von Ritterspielen, „Trauer herrschte in den Herzen“. Parzival wird zum Burgherrn geführt, von dem es heißt „Er lebte nicht, er starb dahin“.
Er brauchte wegen seiner Krankheit „warme Kleidung, weiß und lang aus Zobelpelzen“. Viele „schöne Ritter“ und edle Frauen in Seidengewändern sind hier im Festsaal anzutreffen, als man „das Leid zu ihnen trug“ – ein blutiges Schwert. Es trägt eine Jungfrau „das Glück vom Paradies“ herein, den „Gral“, den Eschenbach nur als „ein Ding“ bezeichnet. Der Gral ist im Parzival „Frucht der Seligkeit, Füllhorn aller Erdensüße, es reichte nah an das heran, was man vom Himmelreich erzählte.“ Er füllte jede Schüssel und jeden Becher – Ausdruck unendlicher Fülle und Lebensfreude. Parzival genießt, lässt sich den Becher nachfüllen, freut sich an der Gesellschaft in all ihrem Glanz und Prunk.
Die Frage nicht das Schwert beweist den Mut
Und doch bleiben die Menschen auf der Burg unerlöst, in ihrer Trauer gefangen. Der Grund: Parzival hat nicht gefragt. Er, der kühne, der mutige Ritter, hat alles „wahrgenommen, den Luxus und das große Wunder, wahrte die Form und fragte nicht“. Er hätte den Burgherrn fragen sollen, woran er litt, dann hätte er ihn und den ganzen Hof erlöst von seiner Trauer. Der Erzähler klagt: „Ein Unglück, dass er jetzt nicht fragte! Noch heut leid ich dran – für ihn!“ Parzival hätte die alles entscheidende Frage nach dem Grund des Leids stellen sollen. Das wäre die eigentlich mutige Tat des Ritters gewesen. Mutiger noch als jeder gewonnene Kampf oder die Eroberung eines Landes. Diese Frage, nicht das Schwert, wäre es gewesen, die wirklich erlöst und befreit hätte.
„Da stimmt etwas nicht“: Wer kennt nicht diese Situationen, in denen im Hintergrund der Gedanke mitläuft, dass etwas nicht stimmt. In denen wir wahrnehmen, dass sich hinter der Fassade des Gegenübers, vielleicht sogar im Gesicht des Anderen, etwas verbirgt – ein Kummer, eine Sorge, Erschöpfung, Leid, Trauer. Ein Schmerz, der innerlich bindet, unfrei, „unerlöst“ macht.
„Was ist es, was Dich schmerzt?“
„Was ist es, was Dich schmerzt?“ Es erfordert Mut, diese Frage zu stellen. Man möchte ja nicht aufdringlich sein, nicht für neugierig gehalten werden. Oder es hindern Konventionen, die rechte Frage zu stellen. Jedoch – könnte hinter der Scheu zu fragen nicht auch die Angst vor der Antwort des anderen stecken? Einer Antwort, die konfrontiert mit fremdem Leid, die hilflos, sprachlos macht. Dann lieber gar nicht fragen, so tun, als hätte man nichts bemerkt?
Fragen können – wenn sie aus echtem Mitleiden und Mitsorge und nicht aus bloßer Neugier gestellt werden – tatsächlich erlösend und befreiend wirken. Sie ermutigen den anderen, auszusprechen und dabei ins Wort zu fassen, was ihn bewegt. Allein schon dadurch, dass das Verborgene durch das Aussprechen ans Licht kommt, kann ein erster Schritt zur Klärung und Heilung geschehen. Und wenn es nur die Gewissheit ist: Da ist ein hörender Mensch, der mich versteht, der meinen Schmerz teilt, der ihn mitträgt; der auch mit dem Unfassbaren ringt, der auch nach dem „Warum?“ fragt, der das Schweigen mit aushält, einfach „da“ ist. Antworten, schon gar keine schnellen, hilflosen Ratschläge, führen eher dazu, dass sich der Mitteilende unverstanden fühlt und verschließt.
Dieses Beispiel des nicht fragenden Parzival, schon viele hundert Jahre alt, lehrt noch heute die Weisheit, dass es manchmal genügen kann, nachzufragen, damit Heilsames geschieht. „Ihr hättet Mitleid zeigen müssen, mit ihm, den Gott gezeichnet hat, ihn nach dem Leiden fragen müssen“, heißt es im Epos. Es erzählt auch von der tiefen Reue Parzivals: „Dass er zu träg‘ zum Fragen war, als er beim Burgherrn saß, der litt – dies bereute er sehr heftig, der Held, dem es an Mut nicht fehlte.“
Bild: Josef Eberhard, Adobe Firefly KI
Über den Autor/ die Autorin

Gerlinde Knoller
Gerlinde Knoller ist Journalistin und Germanistin. Sie hat jetzt zudem das Masterstudium „Theologie des geistlichen Lebens“ abgeschlossen und promoviert nun zum Thema „Spiritualität und Dichtung“. Sie ist außerdem in der ignatianischen Spiritualität verwurzelt und ist Mitglied der Gemeinschaft christlichen Lebens (GCL).
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