
Wenn Heimatgefühle weh tun
In meinem Bekanntenkreis gab es niemanden, der auf meine spontane Frage: „Was bedeutet für dich Heimat?“ sofort eine Antwort parat hatte: „Menschen und Orte, wo ich meinen Anker auswerfen kann,“ meinte meine fröhliche Freundin Daniela nach einem Moment des Zögerns und schaute plötzlich ernst drein.
Mir geht es genauso. Mich macht das Wort „Heimat“ wehmütig und manchmal traurig. Auf Erden bleibt nichts ewig, auch wenn wir das gerne hätten. „Meine Heimat ist da, wo du bist“, hatte mein Mann gesagt und mich fest umarmt, als wir vor acht Jahren die Entscheidung trafen, unser Daheim in Hamburg aufzugeben und in den Schwarzwald ins Haus meiner mütterlichen Vorfahren zu ziehen.
Vor zwei Jahren starb er. Mit ihm fort ging ein Zustand tiefer Geborgenheit, der mir Sicherheit gab, Wärme und eine heitere Leichtigkeit, egal an welchem Ort. Wir waren oft unterwegs. Ich trage nun zwei schmale Ringe mit je fünf kleinen Saphiren an der rechten Hand, als könnte ich mit diesen Schmuckstücken ein Quentchen Vergangenheit in die Zukunft retten. Den silbernen Ring brachte mein Mann mir einst aus Italien mit, der goldene gehörte meiner Mutter.
„Erinnerungen sind Wurzeln, die ich mit mir trage“
„Sobald ich die Stadt meiner Kindheit besuche, muss ich weinen. Ich sehe meinen Schulweg in Tauberbischofsheim und gehe die vertrauten Straßen entlang. Diese Erinnerungen sind Wurzeln, die ich mit mir trage,“ betonte meine Freundin Gabriele. Und dann erzählte sie mir von ihren Eltern, die beide durch den Zweiten Weltkrieg ihre Heimat verloren. Die Mutter stammte aus Thüringen, der Vater aus Ungarn. Gabriele liebt Thüringer Klöße und scharfe gelbe Paprika, mit Reis und Hackfleisch gefüllt. Ungarisch spricht sie nicht. Nur ein einziges Mal wagte sie eine sentimentale Reise ins Geburtsland ihres Vaters. „Ich habe mehrere Wurzeln im Gepäck, deshalb kann ich überall heimisch werden,“ fügte sie lächelnd hinzu.
Heimatliche Empfindungen sind zerbrechlich
Fremd im Land ihrer Träume fühlt sich derzeit meine Tante, die 1945 vor den Russen aus Schlesien flüchtete und 1958 in die USA auswanderte. „Ich möchte weg von hier. Amerika ist jetzt ein faschistisches Land. Der Präsident und sein Clan zerstören unsere Demokratie und profitieren finanziell davon. Niemand hat den Mut, etwas dagegen zu unternehmen, weil Donald Trump rachsüchtig ist. Das ist zum Fürchten,“ schimpfte die 96jährige am Telefon.
Vertrautsein mit Menschen, mit Orten, mit Landschaften ist vergänglich, weil über Nacht alles anders werden kann. Das weiß jeder, der sich beruflich neu ordnen musste oder im Ausland eine Existenz aufgebaut hat. Entfremdung im gewohnten Umfeld, auch im familiären Bereich, kennen sogar jene, die ihren Radius nie erweitert haben. Denn heimatliche Empfindungen sind zerbrechlich, verändern sich und können weh tun.
Zu den schweren Prüfungen des Schicksals gehört, mit Verlusten fertig zu werden: Wenn die Großeltern tot sind, der Vater die Haustür nicht mehr öffnet und Mutter nicht fragt: „Was willst du essen?“, wenn das Elternhaus verkauft ist, die Ehe scheitert, die Kinder in die Ferne zogen, Geschwister nicht mehr da sind oder ein Tier, das stets der treueste Begleiter war. In meiner Gemeinde in der Pfalz, wo ich aufgewachsen bin, wurde die katholische Kirche abgerissen; ein schlichter 70er-Jahre-Betonbau, nichts weiter. Trotzdem fühlte sich das an, als wäre ein spirituelles Herzstück meiner Jugend ausgelöscht.
Wie man leben und wo man sterben will
Ich denke, dass es möglich ist, „Heimat“ in sich selbst zu suchen und zu finden. Gedankenklarheit, gute Freunde und nicht zuletzt Gottes Hilfe helfen auf diesem emotionalen, inwendigen Weg, der in letzter, radikaler Konsequenz aufzeigt, wie man leben und wo man sterben will. Im Moment bin ich dort glücklich beheimatet, wo die wohnen, die ich auf der Welt am liebsten habe und die mich annehmen wie ich bin.
Eine Nachricht dieses Jahr im Juni hat mich (und viele andere) sehr berührt: Der Tod des Schäfers Toni im Lötschental im Schweizer Kanton Wallis. Alle Einwohner des Dorfes Blatten brachten sich rechtzeitig in Sicherheit, ehe der Gletscher abbrach. Nur der 64 Jahre alte Toni starb mit seinen hundert Schafen unter Tonnen von Eis und Geröll. Er war, trotz offizieller Warnungen, bei denen geblieben, die ihm am Wichtigsten waren, bei seinen geliebten Tieren. Sie waren sein Zuhause.
Foto: Volker Loche (Adobe Stock)
Über den Autor/ die Autorin

Ellen Dietrich
war zwanzig Jahre Fotochefin der Wochenzeitung „DIE ZEIT“, für „ das zeichen“ schreibt die freie Redakteurin seit 2017.
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