Die Sonntagsneurose oder das Leiden an der Freizeit

Können Sie noch mit dem Sonntag etwas anfangen? Was kommt nach dem Kirchenbesuch, sofern Sie ihn machen? Das gähnende Nichts oder das totale Überangebot an Zeitverschwendung? Oder vielleicht doch die Lust am Entspannen und Nichtstun? Die Sonn- und Feiertage werden von den Menschen unterschiedlich empfunden und gestaltet: Während die körperlich Arbeitenden dankbar sind für diese Auszeit, haben Menschen, die geistig arbeiten oder in führenden Positionen sind, Horrorvorstellungen vom Wochenende.

Es gibt zwei Typen

Die einen definieren sich gänzlich über ihre Arbeit. Wenn diese am Wochenende fehlt, fehlt zugleich die eigene Identität, und viele Arbeitnehmer wissen gar nicht mehr, was sie mit sich selbst anfangen sollen. Sie empfinden die Freizeit oder gar Zeit für die Familie häufig als Belastung. Und die gut gebildeten Arbeitnehmer mit einem starken Pflichtgefühl sehen sich jetzt genötigt, bis zum Montagmorgen zu warten, obwohl es doch noch so viel zu tun gibt. Sie können nicht mehr richtig abschalten; der Körper ist mit der plötzlichen Umstellung auf Erholung überfordert. Dann kann es sein, dass sie Arbeitsunterlagen mit nach Hause nehmen oder sich gelangweilt an den Computer setzen. Irgendwie muss ja die Zeit überbrückt werden; jedoch wirkliche Erholung findet nicht statt.

Die anderen sind froh über die Pause und gehen ihrem Hobby nach, wenn sie denn eins haben. Leute ohne Hobby bekommen jetzt Probleme; sie rutschen in einen Müßiggang ohne Muße. Weil der gewohnte Wochenrhythmus durcheinandergerät, beschwert sich auch der Körper. Und dann fällt das Aufstehen am Montag schwer; gedrückte Stimmung ist angesagt, Folge der Sonntagsneurose. Was läuft da schief?

Viele haben Angst, etwas zu verpassen

Immer schneller und möglichst alles gleichzeitig. So will es der Arbeitgeber. Und das macht auch vor der Freizeit nicht halt. Da geht man mit Freunden aus, schaut zwischendurch immer wieder auf das Smartphone, macht Fotos, verschickt Kurznachrichten und hört mit einem halben Ohr gerade noch die Bemerkung, die der Freund gemacht hat. Man ist nicht wirklich anwesend und hechelt hinter allem her, was den Kick vergrößern könnte. Zahlreiche Forscher fanden heraus, dass die Konzentrationsfähigkeit kurzlebig ist und sich die Verbindlichkeit auf Null hinbewegt. Länger als zwei Stunden darf eine Freizeitaktivität nicht dauern, dann wird sie langweilig. Was einen langen Atem braucht, ist nicht gefragt: ein Instrument zu lernen, zu malen, zu basteln….

Okay. Es gibt sie noch, die wenigen ausdauernden und ehrgeizigen Mitmenschen, die ihre freie Zeit sinnvoll gestalten und Neues lernen. Sie wurden so erzogen.

Was machen die Deutschen am Sonntag?

90% lümmeln sich vor dem Fernseher; 70% hängen am Telefon oder lesen die Zeitungen, 60 % schlafen aus und 50% lieben den Kaffeeklatsch. Mit dem Partner verbringen 68% ihre Zeit. Da bleibt noch der Sport, der – man glaubt es nicht – ganz unten steht. Gerade mal 13% nutzen den Sonntag zum Joggen, Fußballspielen, Fitness oder Spaziergang. Beim Buchlesen, Musikhören oder Schachspielen kommen wir auf circa 7%.

Je nach Jahreszeit steht noch der Schrebergarten, die Segeltour oder eine Skifahrt auf dem Plan, womit sich die Interessen ziemlich erschöpft haben.

Ich persönlich finde mich wieder beim Lesen, Spaziergang und Computer. Zwischendurch wäre ein Zwetschgendatschi sehr angenehm oder ein Besuch bei Freunden. Und manchmal kann mich das Nichtstun nerven; dann schreibe ich Gedichte, die am Abend im Papierkorb landen. Hauptsache: Der Sonntag neigt sich dem Ende zu.

Die Alten können es noch

Sie können noch stundenlang aus dem Fenster schauen. Sie haben gelernt, sich Zeit zu nehmen und engagieren sich auch deutlich mehr für soziale Dinge. Sie bevorzugen die Geselligkeit, in der noch echte Kommunikation stattfindet, da sie nicht vom Handy beherrscht werden. In Frankreich läuft man in den Parks Boccia spielenden Alten und Musik hörenden Jungen über den Weg. Die mittlere Generation ist eingezwängt zwischen Familie, Job und anderen Verpflichtungen, sodass sie kaum noch die Kraft und Lust hat, etwas zu unternehmen. So wird die freie Zeit zum Putzen und Waschen, Bügeln und Fernsehen genutzt.

Angesichts dieser Freizeitgestaltungen verwundert es nicht, dass laut einer niederländischen Studie die soziale Intelligenz schrumpft und wahrscheinlich auch die emotionale. Wenn sogar Eltern ihren Kindern die Freizeit organisieren (samt Chauffeurdienst), bleiben Selbstbestimmung und Originalität auf der Strecke. Die wenigsten lesen ein Buch, denn es strengt den Grips zu sehr an. Darüber können Lehrer ein Trauerlied singen.

Was tun?

Planen Sie etwas für den Sonntag, was Ihnen Freude macht. Sehen Sie zu, dass der Tag einen Rhythmus hat. Und tun Sie das, was während der Woche zu kurz kommt. In der Regel fehlt uns der sportliche Teil: Bewegung, Laufen, Tanzen. Vielleicht ergibt sich endlich mal, das zu tun, was den sozialen, geistigen und seelischen Aspekt miteinbezieht:

Spielen mit anderen, z. B. Monopoly, Halma, Rommee… all die Brett- und Würfelspiele aus unseren Kindheitstagen. Eine Nachbarin ist 92 Jahre alt; sie fährt in ihrem Sportwagen sonntags zum Essen; sie spielt einmal in der Woche Bridge; sie geht täglich schwimmen und ist an der Tagespolitik interessiert, mischt sich ein in die lokalen Belange. Jedermann kennt sie und staunt über ihre Fitness und Mobilität. Von nichts kommt nichts. Sie liest viel. Denn wer das nicht tut, verkümmert. Sie müssen keine Angst haben zu verkümmern. Sie lesen ja gerade. (12.2017, Bild: istock©tatyanatomsickova)

Dieser Artikel erscheint in der Ausgabe 01| Januar 2018 von „das zeichen“ – Die Zeitschrift des Katholischen Apostolats

Über den Autor/ die Autorin

Pater Dr. Jörg Müller SAC

Pater Dr. Jörg Müller SAC stammt von Bernkastel-Kues an der Mosel (geb 1943). Er durchlitt die Schulzeit, ist zweimal sitzengeblieben, und hat sich dann in den Studien der Theologie , Philosophie und Pädagogik (Trier, Innsbruck), Psychologie und Pathologie (Salzburg) davon erholt. Er war Lehrer an verschiedenen Schulen in Trier, Salzburg, Tamsweg und Saarburg, dann Psychotherapeut mit eigener Praxis, bis ihn der Frust packte und er in Tunesien eine T-Shirt-Fabrik baute. Vom Partner betrogen,  kehrte er zurück nach Deutschland und trat in die Gemeinschaft der Pallottiner  ein. Das war 1989 am Tag des Mauerfalls. Im Pallotti Haus Freising gründete er die Heilende Gemeinschaft, eine stationäre, therapeutische Einrichtung für Menschen in seelischer Not. Inzwischen hat er über 60 Bücher geschrieben und 4 Lied-Cassetten herausgebracht; er ist unter anderem auch als Kabarettist  unterwegs.