Der Blick der Virologen reicht nicht aus

Der Blick der Virologen reicht nicht aus

Eine Antwort auf die Corona-Krise aus Sicht von Theologie, Ethik und Pflege

Der öffentliche Diskurs in der Corona-Krise wird vor allem von Virologen bestimmt. Das ist wichtig, reicht aber nicht aus. Auch theologische, ethische sowie pflegefachliche Fragen müssten gestellt werden. Sie sind dringlicher denn je.
Seit Wochen nun wird die Republik durch die Corona-Krise vor große Herausforderungen gestellt. Vor allem in den Klinken, den Pflegeheimen und der ambulanten Versorgung sind die Auswirkungen erkennbar. Der öffentliche Diskurs wird durch die Medizin bestimmt, vor allem die virologische Fachkompetenz. Diese Perspektive ist wichtig, gerade in der aktuellen Krise essentiell. Aber es kann wenig Zweifel dahingehend geben, dass mit der Corona-Krise theologische, ethische sowie pflegefachliche Fragen verbunden sind, die weit über die aktuelle Situation hinausgehen. Aus diesen drei Perspektiven soll im Folgenden eine Reflexion im Hinblick auf die Corona-Krise vorgenommen werden.

Die theologische Perspektive

Dass Würde und Wert des Menschen in seiner Gottebenbildlichkeit begründet liegen, ist eine der zentralen Einsichten der christlichen Theologie. Gegenüber substanz- und eigenschaftsontologischen Ansätzen, welche das Wesentliche des Menschen am Vorhandensein bestimmter Eigenschaften oder Fähigkeiten festmachen – zum Beispiel Vernunft, Sprache, Bewusstsein –, wird aus dieser Tradition als anthropologische Fundamentalbestimmung herausgestellt, dass alle Menschen vor Gott gleich sind und als Personen Anerkennung beanspruchen können. Mehr noch: Vulnerabilität und Endlichkeit gehören substanziell zur menschlichen Existenz. Das wird uns in jeder Krankheit vor Augen geführt, nicht zuletzt auch in der aktuellen Krise. Aus christlicher Sicht ist es das Leben und Sterben Jesu von Nazareth, aus dem ein Lebensentwurf abgeleitet werden kann, der sich von Barmherzigkeit, Solidarität und konkretem Engagement für die Letzten und Verwundbarsten leiten lässt und der im Ernstfall sogar den Einsatz des eigenen Lebens nicht scheut. Für eine Gesellschaft im Ausnahmezustand ist es aus dieser Perspektive die Solidarität, über die zwingend nachzudenken ist.
Niemand hat das je besser ins Bild gesetzt als Pier Paolo Pasolini, der abseits aller sentimentalen Klischees in seinem Film „Das 1. Evangelium – Matthäus“ aus dem Jahre 1964 die sozialen Aspekte der Botschaft Jesu in den Vordergrund gerückt hat. Christus wurde als leidenschaftlicher Bekämpfer des Unrechts dargestellt, das die Menschen sich selbst zugefügt haben. Nun ist die Corona-Krise kein Leid, für das irgendjemand verantwortlich gemacht werden kann; bestenfalls Regierungen, die zu spät, halbherzig oder falsch gehandelt haben. Die Konsequenz im Sinne eines radikalen Christentums ist jedoch gleich: Sorge, Mitgefühl und praktische Hilfe für die Schwachen und die Ärmsten sind das Gebot dieser Stunde. Deshalb ist es ein hoffnungsvolles Zeichen, dass ausgerechnet einer der reichsten Männer der Welt – Bill Gates – zur Unterstützung der afrikanischen Staaten aufruft. Er weiß, dass Nächstenliebe nicht nur eine Floskel ist. Denn gerade in den ärmsten Ländern wird die Krise am deutlichsten zuschlagen. Damit soll nicht geleugnet werden, dass auch bei uns (und in allen europäischen Ländern, Asien und den USA) große Herausforderungen erkennbar sind. Aber niemand wird in Abrede stellen können, dass die Katastrophe ganz woanders eintreten wird. Wir wissen, dass dies so geschehen wird. Und wir sind zur Solidarität in Form von Schuldenerlassen, Unterstützung durch medizinisches Gerät oder Unterstützung durch Fachpersonal aufgerufen. Dies war auch eine der klaren Aussagen in der Osterbotschaft von Papst Franziskus.

Der ethische Blickwinkel

Ethische Kriterien für eine klinische Entscheidung knüpfen an die grundlegenden Gedanken einer theologischen Anthropologie an und stellen die Menschenwürde ins Zentrum. Damit verbunden sind Hinweise dahingehend, wie Willkür, Diskriminierung oder Instrumentalisierung von Menschen zu vermeiden sind. Als normative Richtschnur dienen die vier Prinzipien der biomedizinischen Ethik: der Selbstbestimmung, der Fürsorge, des Nichtschadens und der Gerechtigkeit. Es darf kein Unterschied im Zugang, der Behandlung und der Therapie gemacht werden, etwa im Hinblick auf Alter, Geschlecht, Religion, kultureller Hintergrund, Sozialstatus etc. Einzig und allein medizinisch-pflegerische, fachliche und ethische Überlegungen sind ausschlaggebend. Auch in Fällen, bei denen nicht ausreichend Ressourcen vorhanden sind –zum Beispiel zu wenig Beatmungsgeräte –, ist eine Orientierung unzulässig, die mit Werturteilen über die Person des Patienten verbunden ist. Das bedeutet in der Konsequenz, dass die technischen und personellen Ressourcen einer Intensivstation im Prinzip für alle Patienten mit intensivmedizinischem Behandlungsbedarf zur Verfügung stehen müssen.
Machen wir es konkret: In Italien hatte man sich dazu entschlossen, möglichst viele Lebensjahre zu retten. Aufgrund der unzureichenden Ressourcen stand man aber vor der Herausforderung, ältere Menschen, mehrfach erkrankte Personen oder andere „Risikogruppen“ nicht mehr an die Beatmungsmaschinen anzuschließen und stattdessen jüngere und weniger gefährdete Menschen zu bevorzugen. Eine solche Selektion vulnerabler Personen ist aus ethischer Sicht inakzeptabel. Denn sie verstößt letztlich gegen die Menschenwürde. Und diese Praxis führt in der Konsequenz dazu, dass Stigmatisierung, Angst und Ausgrenzung bei älteren Menschen und Schwachen zunehmen, davor warnen bereits Fachgesellschaften.

Die neue Rolle der Pflege

Die grundlegende Orientierung seitens der christlichen Theologie (Solidarität) und die konkreten Empfehlungen für kritische Entscheidungssituationen aus ethischer Sicht (Diskriminierungsverbot) müssen vor einem zum Teil substantiellen Wandel des Gesundheits- und Pflegesystems und neuen Anforderungen an die Pflege verortet werden. Zwar wird aktuell den „Helden des Alltags“ applaudiert; die wichtigste Botschaft aus der Corona-Krise muss aber lauten, die Misere der Pflege politisch in den Blick zu nehmen und nachhaltig (und nicht nur symbolisch) Mängel in der Bedeutung der Pflege und ihrer professionellen Versorgungspraxis zu beseitigen.
Wir haben die Krankenhäuser als Profitcenter umfunktioniert, zwischen 1995 und 2006 insgesamt 51.000 Pflegestellen dort wegrationalisiert, die Zahl der Patienten um 6 Prozent erhöht und die Verweildauer von 13,3 Tagen 1992 auf 7,3 Tage 2017 reduziert. Aktuell kommen nur 19 Pflegende auf 1.000 Fälle, in Japan sind es 53,1 Pflegende und selbst im OECD-Durchschnitt sind es 31,9. Deutschland nimmt im europäischen Vergleich – vor Israel und Ungarn – den drittletzten Platz ein. Bekannt ist die extreme Belastung des Pflegeberufs, seine geringe Bezahlung (vor allem in der Altenpflege), seine ambivalente gesellschaftliche Anerkennung. Geradezu skandalös ist die niedrige Akademisierungsquote der Pflege; sie liegt aktuell bei 0,6 Prozent bundesweit. Der Wissenschaftsrat hatte vor fast 10 Jahren bereits einen Anteil von 10 bis 20 Prozent gefordert, hiervon sind wir noch weit entfernt. Wenn wir wirklich Innovationen und Weiterentwicklungen wollen, dann brauchen wir einen Schub für die Hochschulen, die akademische Entwicklung und die Professionalisierung der Pflegenden. Nur so kann eine Anschlussfähigkeit an internationale Entwicklungen, zum Beispiel in den skandinavischen Ländern aber auch an Schottland und Großbritannien, ermöglicht werden.
Aber es geht nicht nur um Konkurrenz; aus pflegerischer Perspektive lautet die wichtigste Lehre aus der Corona-Krise, dass die Rolle der Pflege neu aufgestellt werden muss. Niemand hat das besser formuliert als Rolf Rosenbrock, und zwar bereits vor 25 Jahren. Er war der Meinung, dass von Eigenständigkeit, angemessener Problemwahrnehmung und erst recht von einer wissenschaftlichen Fundierung des Pflegehandelns keine Rede sein kann. Denn nach einer langen caritativen Tradition wurde die Pflege im 19. Jahrhundert als ärztliche Assistenztätigkeit neu konzipiert. Die Medizin hat es verstanden, das caritative Element der Pflege als Dienst am Nächsten in den Dienst am Arzt umzuwandeln. Dieses Monopol, so muss die Konsequenz aus der Corona-Krise lauten, hat sich heute überlebt. Eine neue Vision für unser Gesundheitswesen kann nur multi- und interdisziplinär gedacht werden, und zwar mit neuem Selbstbewusstsein der Pflege – jenseits ihrer politischen Regulierung und der Unterordnung unter die ärztliche Profession.

Die Konsequenz

Die These dieses kurzen Textes lässt sich wie folgt auf den Punkt bringen: Wenn wir nicht nur aktuell die Krise bewältigen wollen, sondern aus ihr lernen und die richtigen Konsequenzen ziehen wollen, dann müssen wir folgende Punkte beachten: Erstens darf die Deutungshoheit über das Gesundheitswesen nicht allein der Medizin – und hier vor allen den Virologen – überlassen werden. Deren Vorschläge an die Politik sind aktuell hoch bedeutsam. Aber mittel- und langfristig kann nur eine übergreifende Perspektive Richtschnur sein und nachhaltige gesellschaftliche Akzeptanz beanspruchen. Dazu gehören die genannten Disziplinen, sicher auch noch weitere. Sie müssen sich zu Wort melden, eine multi- und interdisziplinäre Besinnung ist am Ende notwendig.
Zweitens sollten wir das Aufgaben- und Kompetenzprofil der Pflege überdenken. Wie soll eine professionelle Arbeitsweise etabliert werden, wenn am Ende jede noch so banale Verordnung vom Arzt angeordnet und nicht selbständig seitens der Pflege verantwortet wird? Wir verlangen nach engagierten, motivierten und klugen Köpfen in der Pflege, blockieren aber jede Veränderung durch ein arztzentriertes Gesundheitssystem, welches sich längst überholt hat – von der Akademisierung ganz zu schweigen. Drittens sollten wir die Krise zu einem Innehalten und zu einem Moratorium nutzen – auch für die Politik. Die ist im Moment mit der Bewältigung der Krise beschäftigt. Aber die Zeit danach sollte genutzt werden für eine neue Vision eines Gesundheitswesens – jenseits der Profitmaximierung, der Ausbeutung der Pflegenden und der Benachteiligung der Schwachen. Die Zeit ist reif für die Renaissance der Gemeinwohlidee im Gesundheitswesen. Dazu brauchen wir öffentliche Foren der Verständigung, und zwar unter Beteiligung der Hochschulen – nicht nur als Talkshow-Inszenierungen. Versinken wir also nach der Krise nicht in einer neuen Geschäftigkeit und Besinnungslosigkeit, sondern tun wir das, was das Schwerste ist: Lernen!

Der Autor

Hermann Brandenburg ist Inhaber des Lehrstuhls für Gerontologische Pflege an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Vallendar (PTHV). Der Text entstand mit Unterstützung von Margareta Gruber OSF, Dekanin der Katholisch-Theologischen Fakultät der PTHV, Erika Sirsch, Prorektorin und Dekanin der Pflegewissenschaftlichen Fakultät, und Paul Rheinbay SAC, Pallottinischer Delegat der PTHV.

 

Bild: shintartanya Adobe Stock

Über den Autor/ die Autorin

Prof. Dr. Hermann Brandenburg

Prof. Dr. Hermann Brandenburg ist ausgebildeter Altenpfleger mit mehrjähriger Berufserfahrung in verschiedenen Pflegeheimen. Er ist diplomierter Sozialwissenschaftler und Gerontologe. Seine erste Professur hatte er 1996 an der Katholischen Fachhochschule Freiburg. Seit 2007 ist er Professor für Gerontologische Pflege an der Philosophisch-Theologischen Hochschule in Vallendar. Zusätzlich war er hier neun Jahre als Prodekan sowie drei Jahre als Dekan der Pflegewissenschaftlichen Fakultät tätig.