Ein religiöses Weihnachts-Gen?

Saul Friedländer schreibt in seinen Lebenserinnerungen: „Ich glaube, dass ich jahrelang ein guter Lehrer war. Man sollte jedoch das Gefühl dafür haben, wann der Zeitpunkt gekommen ist, an dem man besser aufhört.“ Einer seiner Kollegen, Professor für Völkerrecht,  verpasste diesen Zeitpunkt und ging auch dann nicht, als zum  Schluss nur noch ein einziger Student in seiner Lehrveranstaltung saß. Seine Frau konnte es sich später nicht erklären. „Ich verstehe das nicht; am Anfang sind Dutzende Studenten zu meinem Mann geströmt, am Ende blieb nur einer. Aber er lehrte doch genau denselben Stoff.“

Nun ja, genau das war das Problem.

Am  Heiligen Abend kommen Christen, die während des Jahres kaum oder gar nicht in die Kirche gehen, in großer Zahl, um die Christmette zu feiern. Das gehört zu Weihnachten, obwohl immer dasselbe verkündet wird. Wie kommt das? Sind es Kindheitserinnerungen, die in den vorweihnachtlichen Tagen geweckt werden? Sind es die alten Weihnachtslieder, die man gerne wieder einmal hören möchte. Dafür braucht man kein überzeugter Christ zu sein. Ein englischer Evolutionsbiologe sang und hörte an Weihnachten gerne Christmas Carols, die englischen Weihnachtslieder, obwohl er bekennender Atheist war. Gibt es vielleicht so etwas wie ein religiöses Gen, das um Weihnachten herum aktiv wird, dann aber wieder verstummt? Ist der Mensch vielleicht  doch unheilbar religiös? Fragen über Fragen.

Ganz im Gegensatz zum Vorlesungsbesuch bei dem alten Professor kommen am Heiligen Abend mehr Menschen in die Kirche als sonst, obwohl der Predigttext immer derselbe ist (Lk 2,1-14). Gott ist in dem Kind in der Krippe Mensch geworden. Gott ist zur Welt gekommen. Das ist der rote Faden, der sich durch das Textgewebe der Weihnachtsgeschichte zieht, die Lukas literarisch geformt hat. Eine poetische Dogmatik. Es ist das Webmuster des Lukas, das das Geheimnis der Menschwerdung Gottes aufleuchten lässt, uns  anspricht und zu Herzen geht. Der Unfassbare ist anfassbar geworden. Die uralte Verheißung hat sich erfüllt. Der Stern aus Jakobs Haus  (Num 22,17), den der blinde Seher Bileam mit entschleierten Augen gesehen hatte, geht strahlend auf.

In ihrem Gedicht: „Es riecht nach Schnee“, fragt die Dichterin Christine Lavant zweifelnd: „Ich weiß nicht, ob der Himmel niederkniet, wenn man zu schwach ist, um hinaufzukommen.“ Das aber ist an Weihnachten geschehen. Der Himmel ist niedergekniet. Ganz tief. Bis in den Stall von Bethlehem. Und damit stehen wir vor dem Geheimnis der Heiligen Nacht.

„Warum wurde Gott Mensch?“ so fragte der Theologe Anselm von Canterbury im 11. Jh. Er wollte mit zwingenden Vernunftgründen beweisen, dass Gott notwendig Mensch werden musste, um die Erbsünde, in der sich die Menschheit befindet, durch eine angemessene Gegenleistung wieder aufzuheben. „Notwendig“ hat sich in der Theologie nicht durchgesetzt. Gott hätte auch auf andere Weise, als er es getan hat, die Menschen erlösen können. Das wusste schon  Augustinus im 4./5. Jh.

So bleibt die Frage: Warum wurde Gott Mensch? Vielleicht dürfen wir, die wir jedes Jahr wie Anfänger vor dem  Weihnachtsgeheimnis stehen, mit Christine Lavant verhalten antworten: Damit wir zu Gott hinaufgelangen. Wir, deren Leib am Boden klebt (Psalm 44,26). Die Weihnachtsgeschichte will von Ostern her gelesen werden. Dazu will der Evangelist uns  anhalten. Vom Ende her wird offenbar, wer dieses Kind in der Krippe ist: Wahrer Gott und wahrer Mensch. Deshalb hat das Weihnachtsevangelium diesen freudigen fast österlichen Grundton, der das Herz öffnet und uns mit den Engeln singen lässt: „Ehre sei Gott in der Höhe und auf Erden Friede bei den Menschen seiner Gnade.“

 

((15.12.16, Bild: pixabay))

Über den Autor/ die Autorin

Karl Heinen SAC

Geboren 1935. Mit 14 Jahren besuchte er das Gymnasium der Pallottiner in Limburg. Es folgten Noviziat und Profess; später die Priesterweihe. Sein Studium der Theologie und Bibelwissenschaft absolvierte er an der Gregoriana in Rom. Nach der Promotion 1968 wurde Professor an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Vallendar im Fach Exegese des Alten Testaments. Nach der Emeritierung 2004 als Generalprokurator der Pallottiner in Rom tätig; seit 2011 freier Mitarbeiter bei der pallottinischen Zeitschrift „das zeichen“.